Der Index und die Indices

Ganz kirre werden könnte man ob der Frage, welche Gefühle man jetzt auf keinen Fall verletzen darf.

Weil es sich dabei um solche edlerer Natur handelt, und bei welchen es sich für einen wehrhaften Demokraten gehört, erst einmal draufzuschlagen. Quasi als Nagelprobe auf die verfassungsmäßig gebotene Toleranz des Gehauenen.

Diese Woche ist das ja bei MTV diskutiert worden, einem Sender, in dessen Programm zusammenhängende deutsche Sätze ansonsten eher spärlich vorkommen. Darüber hinaus ist MTV vom Publikum jenseits der Adoleszenz bislang eigentlich nicht bis gar nicht wahrgenommen worden.

Jetzt allerdings hat der Kanal auch in der Erwachsenenwelt einen echten Gig landen können: Popetown, ein recht alberner Zeichentrickfilm, der den Vatikan karikieren soll. Deswegen führten sich Spitzenpolitiker und kirchliche Würdenträger in den letzten Wochen so hysterisch auf wie ansonsten nur pubertierende Teenies bei Tokio-Hotel-Konzerten.

Selbstverständlich wurden auch Stimmen laut, die Toleranz anmahnten. Die von Julia Klöckner und Marco Wanderwitz etwa, den Vorsitzenden der Jungen Gruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

“Besonnenheit und Standhaftigkeit sind nun gefragt”, postulieren die, “Karikaturen stellen eine Überzeichnung der Wirklichkeit dar, sie sind Teil der Meinungs- und Pressefreiheit. Zur Demokratie gehört, dass man solche Überzeichnungen, solange sie die Würde nicht verletzten, aushalten sollte.”

Ein hübsches liberales Testimonial! Nur schade, dass so eine wohlfeile Pressemitteilung lediglich anlässlich der Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten abgesetzt wurde. In Sachen Popetown hingegen ist keine nachgeschoben worden.

Man muss da offenkundig sehr fein differenzieren und darf deshalb auch keinen Widerspruch sehen zwischen dem, was der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber meint, und dem, was sein Innenminister Günther Beckstein sagt. Nachdem sich Moslems so über die Mohammed-Karikaturen aufgeregt haben, fragt sich letzterer laut Bild, ob der Islam überhaupt mit unserer Verfassung vereinbar sei: “Es gibt auch Auslegungen des Korans, die mit Blick auf das Grundgesetz äußerst problematisch sind.”

Stoiber ist im Fall Popetown wiederum ganz auf der Seite der Aufgeregten und will deswegen das Gesetz ändern, das sein Fast-Nachfolger so hochhält. Konkret: den Blasphemie-Paragraphen 166 StGB.

Sie haben’s halt einfach schwer, unsere Lenker. In einer multipolaren Welt ist Zensur zu einem schwierigen Geschäft geworden.

Früher ging das leichter. Da setzte der Vatikan eine missliebige Publikation auf den Index. Und die leidige Angelegenheit war erledigt.

Heute hingegen müssen die Zensoren nicht genehme Inhalte aus diversen Indices streichen. Das ist sehr viel aufwändiger. Und zudem noch von Land zu Land verschieden.

Der hierzulande zugänglichen Suchindex von Yahoo beispielsweise liefert in nur 0,03 Sekunden beeindruckende 335 Millionen Treffer zum Thema “Sex”. In der Volkrepublik China hingegen wohl keinen. Denn die dortige Niederlassung des Konzerns erklärt: “Wir sind eine ernstzunehmende Opposition gegen Online-Inhalte, die die öffentliche Moral, die Kultur und die Traditionen der Menschen in China untergraben.”

Nur so macht Opposition halt richtig Spaß, wenn sie sich in Einklang mit der Regierung weiß. Und die Konkurrenz hält’s genauso: Google findet dort zu brisanten Themen ebenfalls nichts, nennt sich in China jetzt aber Gu Ge, was übersetzt “Lied der reichen Ernte” heißt, praktisch allerdings weniger auf die erzielten Suchergebnisse als auf die eingefahrenen Gewinne zutrifft.

“Dieses elende kommunistische Regime!” ist man da geneigt auszurufen. Sogar die Rolling Stones hat es ja bei deren Auftritt letzten Monat zensiert.

Fünf Songs durften die betagten Herren nicht bringen. Darunter das melancholische Lied eines am Liebeskummer verzweifelnden jungen Mannes. Mick Jagger war, als er es schrieb, gerade mal 25. Und er beschreibt darin, wie man sich in diesem Alter – und gegebenenfalls auch noch später – in solchen Fällen vergeblich zu trösten versucht. Mit viel Alkohol: “I just can’t seem to drink you off my mind”. Und mit anderen – schlechten – Frauen, Spelunkenweibern, Honky Tonk Women. Das sei nichts für die Ohren der Chinesen, befanden die Zensoren.

In God’s own country kann sowas natürlich nicht passieren. Da dürfen die Stones spielen, was sie wollen.

Und damit die Amerikaner trotzdem nicht hören, was nichts für ihre Ohren ist, hat ABC einfach das Konzert in der Halbzeitpause des Superbowl in Detroit im Februar dieses Jahres um 5 Sekunden zeitverzögert übertragen. Das hat gereicht, um “unpassende Passagen” herauszuschneiden.

Die inkriminierten Lieder waren ansonsten dieselben wie in Shanghai. Bloß der Windows-95-Song “Start me up” war noch zusätzlich dabei. That makes a grown man cry.

Tja, die vielen verletzlichen Gefühle, halt. Auf welche muss man nun wirklich Rücksicht nehmen? – Auf jeden Fall auf jene von Moslem-Fundamentalisten, die Jyllands-Posten abonniert haben, und auf die von Unions-Politikern, die nur noch vor MTV abhängen und darüber ganz vergessen, den Blasphemie-Paragraphen zu verschärfen.

Alle anderen sollten sich statt dessen das Toleranzgebot des Koran zu Herzen nehmen: “Und hätte Allah es gewollt, hätte er euch sicherlich zu einer einzigen Gemeinde gemacht; jedoch er lässt irregehen, wen er will, und führt richtig, wen er will.” (Sure 16, Vers 93).

Und Euch, Genossen von der KP Chinas, die Ihr es als unziemlich empfindet, dass Männer und Frauen überall nach einander Ausschau halten, selbst im Web, Euch möge der Satz von Karl Marx aus der Kritik der Hegelschen Rechtphilosophie in den Ohren klingen: “Weibliches Geschlecht und männliches ziehen sich an, und erst durch die Vereinigung ihrer extremen Unterschiede wird der Mensch.”

Steht auch im Internet. Aber da findet Ihr es ja wohl  nicht – mit Eurem sterilisierten Google-Mähdrescher.