Wie wettbewerbsfähig ist die deutsche IT?

Wirtschaft sieht das Glas halb leer, Berufsverbände sehen es halb voll

“Wir fordern, wir erwarten, wir brauchen!” – die Töne von Volker Jung, dem Präsidenten des Wirtschaftsverbands Bitkom auf der CeBIT, reihen sich nahtlos ein in den klagenden Tenor anderer Industrieverbandspräsidenten wie Dieter Hundt oder Michael Rogowski. Der ausbleibende Aufschwung und Wachstum in der Informations- und Kommunikationsbranche, die Firmenpleiten und Entlassungen zwingen fast zu Schuldzuweisungen in Richtung Politik und Arbeitnehmerorganisationen.
Hier eine kleine Auswahl: In diesen Wochen wird die europäische Copyright-Richtlinie in deutsches Recht gegossen. Auf PCs und Drucker sollen pauschale Abgaben gezahlt werden. “In Deutschland haben wir Forderungen von 250 Millionen Euro auf dem Tisch”, rechnet Jung vor und spottet: “Als nächste Innovation der hoch kreativen Verwertungsgesellschaften erwarten wir eine Urheberabgabe auf Papier.” Gleichzeitig erteilt er einen kräftigen Seitenhieb auf Raubkopierer. Diese könnten die erwartete Pauschalabgabe als “Persilschein” für Piraterie missdeuten, und die Einnahmen schmälern

Nächstes Beispiel: Im Februar dieses Jahres trat die europäische Altgeräte-Richtlinie in Kraft. Demnach muss die Industrie ein bundesweites Rücknahme- und Verwertungssystem einrichten. Die jährlichen Entsorgungskosten der Branche, sollen laut Bitkom-Präsident Jung bei 350 bis 500 Millionen Euro liegen. Doch die Industrie will sich nur um die Weiterverwertung des Elektroschrotts kümmern. Die Abfallsammlung sollen die Kommunen übernehmen und tragen.

Aufträge: ja, Einmischung: nein

Das ist nicht der einzige Bereich, in den nach Ansicht des Bitkom-Präsidenten der Staat kräftig investieren soll. Da wäre zum Beispiel die Bildung. Jung moniert die im Ländervergleich geringe Ausstattung der Schulen mit IT-Equipment. Eine Bürgerkarte und auch eine Gesundheitskarte wären auch nett, weil solche Großprojekte die Wirtschaft ankurbeln. Der Polizei verordnet Jung ein digitales Funknetz und scheut sich nicht, diese Notwendigkeit mit der Terrorismusgefahr in Verbindung zu bringen. Das 30jährige analoge Netz werde insbesondere zur Fußballweltmeisterschaft 2006 zum Sicherheitsrisiko, sagt er.

Gleichzeitig weist Jung Politik und Staat in die Schranken: “Die öffentliche Hand hat kein Geld und dennoch mischt sie sich ständig in Dinge ein, von denen sie nichts versteht”. Sein Motto lautet: “Weniger Bürokratie, weniger Steuern, weniger Abgaben, weniger arbeitsrechtliche Restriktionen, weniger Regulierung.”

Das zu starre Arbeitsrecht in Deutschland gehört mittlerweile ebenfalls zum Standardrepertoire der Bitkom-Beschwerden. Im Klartext fordert Jung nicht nur die Möglichkeit, schneller und einfacher Mitarbeiter feuern zu können, sondern auch längere tägliche Arbeitszeiten und die Abschaffung des Themas Scheinselbständigkeit – Unternehmen sollen flexibler agieren können. Der Mobilfunkmarkt habe gezeigt, was der Begriff Volatilität bedeute. “In Technologiemärkten fährt man eben manchmal Achterbahn”, so Jung lapidar.

Gute Voraussetzungen und Strukturprobleme

Ob das Achterbahnfahren unterm Strich mehr Stellen bringt? Die einstige Wachstumsbranche baut derzeit rapide Stellen ab. Im Jahr 2002 waren es laut Jung insgesamt 35 000 weniger als im Jahr zuvor. Außerdem sind etwa 2000 Firmen vom Markt verschwunden. Rund ein Drittel wurde durch Fusionen und Firmenkäufe wegrationalisiert, die anderen waren wirtschaftlich zu schwach, um überleben zu können. Für dieses Jahr prognostiziert der Bitkom-Präsident den Wegfall von weiteren 10 000 Arbeitsplätzen.

Fast möchte man glauben Deutschland sei auf dem Weg, ein Entwicklungsland in Sachen IT zu werden. Doch Deutschland steht in der Wettbewerbsfähigkeit weitaus besser da, als solches Gezeter vermuten lässt.

Der internationale Vergleich des “Global Competitiveness Report” des World Economic Forums bringt es an den Tag: Bei der Innovationskraft der Wirtschaft rangiert Deutschland auf Platz eins, wie auch bei der Qualität der lokalen Zulieferer. Die deutsche Infrastruktur nimmt Platz drei auf der Vergleichsskala ein und die Qualität der Forschungseinrichtungen Rang vier. “Deutschland hat Chancen ohne Ende,” glaubt denn auch Hubertus Christ, Präsident des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI).

Die Einschätzung des VDI-Vertreters teilt im Wesentlichen auch der technisch-wissenschaftliche Verband der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik VDE. Die positive Bewertung in manchen Feldern lässt die Berufsverbände gegenüber den Schwierigkeiten nicht hinwegsehen. “Die seit Jahren bekannten Strukturprobleme müssen angepackt und zügig umgesetzt werden.” So diagnostiziert Christ einen Bedarf für Korrekturen in den Bereichen Wagniskapital (hier rangiert Deutschland nur auf Platz 17), Bildung (Platz 28), Bürokratieaufwand für Existenzgründer (Platz 37) und beim Ausmaß wettbewerbsverzerrender Subventionen.

Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel

VDI und VDE gehen zwar mit dem Bitkom konform, was die Hemmnisse angeht, doch Tenor und Folgerungen unterscheiden sich erheblich. Doch während der Bitkom den Eindruck erweckt, die Misere sei eine unvermeidliche Folge von zu hohen Lohnnebenkosten und Fehlleistungen der Politik, die es jetzt zu korrigieren gilt, weisen die Berufsverbände der Wirtschaft durchaus eine Mitschuld zu.

“Eine kurzfristig orientierte Beschäftigungspolitik führt immer wieder zu dem sogenannten “Schweinezyklus”, sagt VDI-Repräsentant Christ. “Der Zwang zu vierteljährlichen Bilanzen und die Vorherrschaft der Finanzleute und Analysten verhindern langfristiges Denken, das die deutsche Wirtschaft so stark gemacht hat.” Auch sorgten die Unternehmen nur sporadisch für Aus- und Weiterbildung.

Der Fachkräftemangel auf der einen Seite und die gestiegene Zahl arbeitsloser Informatiker sind jedoch zum Teil hausgemacht. Im Vergleich zu 1998 hat sich die Zahl der arbeitslosen Informatiker mehr als verdoppelt, bestätigt der VDI. Doch solche konjunkturellen Schwankungen könnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Beruf neben dem der Ingenieure überdurchschnittlich stabil ist. So rechnet der VDI damit, dass weiterhin jährlich rund 20 000 Fachkräfte fehlen. Laut VDE liegt der Bedarf an Elektroingenieuren in diesem Jahr bereits bei mindestens 13 000. Es wird heuer jedoch nur 6000 Absolventen dieser Fachrichtung geben.

Fachkräfte wandern ab, nicht zu

VDE-Vertreter lassen keinen Zweifel daran, welche Rolle Informations- und Kommunikationstechnik in Zukunft spielen sollen: “Die Informationstechnik-Branche wird ihre Funktion als Innovationsmotor schneller als erwartet zurückgewinnen” – dank UMTS, WLAN und Mikroelektronik. In drei Jahren werde fast ein Viertel des B2B-Handelsvolumens im Internet erwirtschaftet.

Allerdings fasst der VDI wie auch der VDE die Informationstechnik wesentlich weiter, als eine Nabelschau des Bitkom es zulässt. Die Berufsverbände zählen etwa optische Technologien, Nanotechnologie und Mikrosystemtechnik dazu. Und hier zählt Deutschland ohnehin zur Weltspitze.

Dafür aber benötigt die Industrie Fachkräfte. Schon längst, so VDI-Mann Christ, findet global ein heftiges Werben um die besten Köpfe statt. Anstelle sich darüber Gedanken zu machen, wie sich die Zuwanderung begrenzen lässt, müssten sich Wirtschaft und Politik darüber den Kopf zerbrechen, wie sich die Abwanderung der Guten stoppen ließe und wie sich weitere ins Land holen lassen.

Ob letztere sich wohl mit den Forderungen des Bitkom-Präsidenten in Sachen Arbeitsverhältnisse anfreunden können? Auszug: “Bitkom fordert, dass mehrfach mit demselben Arbeitnehmer befristete Beschäftigungsverhältnisse vereinbart und auch unkompliziert auf mehrere Jahre ausgedehnt werden können.”