W3-Weltenbummel

In diesen Tagen jährt es sich ja wieder, dass der oberitalienische Hofmathematiker Galileo Galilei seinen berühmten Ausspruch getan haben soll: „Und sie bewegt sich doch!“

Gemeint war die Erde, die sich im heliozentrischen Weltbild als unbedeutender Gesteinsklumpen um die Sonne dreht. Ziemlich abseits also werden demnach Menschen geboren, haben ein bisschen Freude und viel Ärger miteinander und sterben dann wieder.
Nur ein Mathematiker bringt die Abstraktionsfähigkeit zu einer derart trostlosen Sicht der Dinge auf. Aber die Gesetze der Physik sind halt danach. Und deshalb hat’s Galileo so gesehen. (Lediglich wegen der stark oxidierenden Argumente der Heiligen Mutter Kirche hat er sich dann doch eines anderen belehren lassen.)

Den meisten Leuten allerdings liegt eine derart ungemütliche Weltsicht gar nicht. Und da kommt es ihnen doch sehr zupass, dass es auch viele Welten gibt, in denen die erbarmungslosen Gesetze der Astrophysik nicht gelten.

Und man braucht gar kein niederländisches Teleskop wie weiland der Meister aus Florenz, um diese Welten zu beobachten. Ein Browser und ein Internet-Anschluss genügen.

Was dem Astronom der Sternenhimmel das ist dem Surfer das World Wide Web. Man entdeckt Welten, die unendlich weit entfernt vom eigenen Hier und Jetzt sind. Im Web allerdings haben sie im Unterschied zum All meist etwas sehr Heimeliges an sich. (Was aber genauso furchterregend sein kann wie die Vorstellung von einer explodierenden Supernova.)

Ein bisschen suchen muss man meist schon in den unendlichen W3-Weiten. Denn die naheliegenden Namen haben sich oft irgendwelche Firmen gesichert, die die Domains veröden lassen. – Dann aber tun sie sich einem doch auf: die Briefmarken-Welt, die Welt der Rosen und die vielen, vielen Aquarienwelten.

Besonders schön ist ja die Bierdeckelwelt, besteht doch ihre Atmosphäre aus jener einzigartigen Mischung aus Schwere und Leichtigkeit. Und sehr exotisch: Bikers Welt. Jene wird vorwiegend von schönen Frauen bewohnt, die in Badebekleidung um irgendwelche Zweiräder drapiert sind.

In jenen Welten gelten die Erkenntnisse des Galileo Galilei nicht. Dort steht wirklich der Mensch im Mittelpunkt. Und die Welt reicht stets nur bis zu dessen Horizont. Eine Distanz, die aus Gründen der Gemütsruhe oft bewusst sehr kurz gehalten ist.

Auch IT-Welten gibt es milchstraßenweise. Meist aber haben jene nichts mit professioneller Informationsverarbeitung zu tun. Profis arbeiten in einer MVS-, einer Unix- oder einer Linux-Umgebung und die, die’s hart getroffen hat, auch schon mal in einer Windows-Umgebung. Jene verlassen sie aber meist nach Feierabend sehr eilig wieder, um die schönen Welten aufzusuchen.

In der Freizeit hingegen entstehen aus der IT häufig sehr wohl Welten. Solche, die sich stark ausdehnen, wie die PC-Welt. Etwas abseitigere wie die Mac-Welt. Und – in jüngster Zeit – auch Mikrokosmen wie die Psion- und die PPC-Welt (Pocket PC). Wirklich! Im Web kann man sie mit bloßem Auge erkennen.

Das Schöne an der Astronomie ist ja, dass man auch noch sehen kann, was längst schon untergegangen ist – weil das Licht so lange braucht. Und im Web ist’s genauso. Auch von Welten, die vor Zeiten off-line gegangen sind, finden sich immer noch Relikte. Auf irgendwelches Proxies, in Caches oder Web-Archiven.

Von der Gewerkschaftszeitung „Welt der Arbeit“ etwa kann man tatsächlich noch Spuren entdecken. Das Blatt selbst hingegen ist vor Jahren eingestellt worden.

Die Arbeitswelt wiederum gibt’s noch. Und die ist in vielerlei Hinsicht so wie die anderen auch, eine eigene Welt halt. Früher nannte man es sogar Milieu.

Und so wie man sich woanders zu Philatelistenvereinigungen und Rosenzüchterverbänden zusammengeschlossen hat, so hat man in jenem Milieu die Gewerkschaften und die sozialdemokratische Partei gegründet. Arbeiterbewegung heißen die beiden. Quasi Verschönerungsvereine. Was ja auch wirklich nötig ist, weil die Arbeitswelt nun wahrlich nicht so schön ist wie die anderen.

Und Anfangs hat das auch gut geklappt. „Seit’ an Seit’“ schritten Gewerkschafter und Sozialdemokraten und sangen nicht nur das gleichnamige Lied, sondern erstritten auch Wahl- und Streikrecht, Urlaub, Kündigungsschutz, mehr Lohn, die 48-, die 40- und die 35-Stunden-Woche. Sozialdemokratische Chefredakteure allerdings schritten häufig nicht, sondern saßen ein, weil sie kluge Sätze geschrieben hatten.

Diese Woche haben Sozialdemokraten und Gewerkschafter auch wieder besonders heftig gestritten. Aber mit einander. Einen Sozialdemokraten, der eigentlich Chefredakteur von Beruf ist, gibt’s auch noch. Der schreibt aber keine klugen Sätze. Der ist Wirtschaftsminister.

Und dass er die Arbeitswelt verschönern will, diesen Eindruck macht er auch nicht gerade. Im Gegenteil: Einer seiner Berater hat jetzt sogar angeregt, man solle doch wieder die 42-Stunden-Woche einführen.

Ach ja, die Arbeiterbewegung gibt derzeit kein gutes Bild ab. Und dabei wär’s doch so nötig, dass sie ihre Welt ein bisschen verschönert. Manchmal, da wünscht man sich ein großes niederländisches Fernrohr, um einen Blick draufzuwerfen. Und dann möchte man ausrufen können: „Und sie bewegt sich doch!“