Leben geteilt durch Zeit

Die wohl gravierendste Maßnahme, die man sich hierzulande gemeinhin vorstellen kann.

Die wohl gravierendste Maßnahme, die man sich hierzulande gemeinhin vorstellen kann. Diesmal hat’s – in Ermangelung anderer aufrüttelnder Themen – die Bild-Zeitung getan.
Ein bisschen dran schuld, dass Geschwindigkeit als etwas so Wichtiges wahrgenommen wird, ist ja auch die IT. Prozessoren sind heute nicht mehr mit 4,77 Megahertz getaktet wie in den Anfangsjahren des PCs, sondern mit 3 Gigahertz. Und ins Internet geht man nicht mehr mit 300 Bit pro Sekunde, sondern mit 768 Kilobit, mit DSL-Speed.

Und das wirkt sich nicht nur auf die Datenblätter aus. Die Prozessoren sind mittlerweile so schnell, dass sie beispielsweise Streaming-Media-Daten on-the-fly dekodieren können. Und die hohe Bandbreite sorgt dafür, dass immer genügend davon zum Dekodieren da sind.

Deshalb kann man, selbst wenn man außerhalb der Reichweite der entsprechenden Sender wohnt, über’s Internet jene wunderbaren – meist öffentlich-rechtlichen – Radioprogramme hören, in denen gewissenhaft recherchierende Journalisten O-Ton-reich aus aller Welt berichten.

Und man braucht sich nicht, die – auf Autofahrer zugeschnittenen – Kommerz-Sender anzutun, bei denen schlecht bezahlte Moderatoren zwischen den Werbespots, ihrem traurigen Schicksal entsprechend, gnadenlos fröhlich sind. Die anzuhören, erspart einem der Internet-Speed.

Und übernächste Woche ist wieder die große Supercomputer-Konferenz in Heidelberg. Da wird dann genauestens aufgelistet, auf wieviel Teraflops, also Billionen Gleitkomma-Berechnungen pro Sekunde, es die schnellsten Number Cruncher der Welt bringen.

Teraflops sind wichtig, denn damit lässt sich etwa die Klimaveränderung berechnen, und zwar bevor sie eintritt. Und vielleicht bekommt man so auch einmal wesentliches über die räumliche Struktur menschlicher Proteine heraus und kann dann neue Medikamente entwickeln, die passen wie ein Schlüssel ins Schlüsselloch, deshalb weniger Nebenwirkungen haben und Krankheiten heilen, gegen die man heute noch machtlos ist. Insoweit ist die Sache mit der Geschwindigkeit in der IT schon in Ordnung.

Und man hat sie inzwischen ja auch mental ganz gut im Griff. Man weiß, dass sie kein Selbstzweck ist, sondern bloß Mittel.

Overclocker, die meinen, das Tollste, was man mit einem Rechner anfangen kann, wäre, einen Benchmark drauf zu fahren, die gibt’s kaum noch. Also in der Computerei sieht man Geschwindigkeit inzwischen sehr gelassen.

An den PCs steht deshalb auch nicht mehr außen dran, was drinsteckt. ‘Intel inside’ ist out. Die Marketingstrategen inside Santa Clara haben das mit ihrem untrüglichen Instinkt klar erkannt und sich andere Slogans einfallen lassen.

Im Straßenverkehr ist es anders. Da ist Tempo ganz offenkundig ein Wert an sich. Deshalb muss ein Auto ja auch nicht nur schnell sein, sondern das muss auch dranstehen.

Die Autoindustrie generiert mittlerweile mehr TLAs (Three Letter Acronyms) als die Computerei. Bei TDI kann man sich ja noch denken, was es bedeuten soll (Turbo Diesel Injection). Aber GTV, CR-V, VRN, SLT…? Irgendwie schnell halt.

Dabei ist doch gerade dann, wenn man einen Weg zurücklegt, Gemach angebracht. Rein aus pragmatischen Gründen: Wenn mer’s bressant hat, no muss mar langsom du, weiß der Schwabe.

Warum also kaufen Unternehmen ihrem mittleren Management, das eigentlich keine Zeit hat, um irgendwo hinzugelangen, nicht Bahn-Cards statt TLA-Geschäftswagen? Dann könnte es bei Tempo 250 etwas arbeiten, anstatt im Stau schnell zu sein. Ein entsprechendes Zeit-Management sollte man bei Leuten, zu deren Job sowas gehört, eigentlich voraussetzen können.

Oder grundsätzlich betrachtet: Der Weg ist ja das Ziel, wie Lao-Tse es so trefflich formuliert hat. Und jemand, der sich dessen nicht bewusst ist und deshalb nur bestrebt, einen solchen möglichst rasch hinter sich zu bringen, der fällt regelmäßig in eine abgrundtiefe Leere.

Man muss sich das nur einmal vorstellen: Da hat sich jemand auf der Autobahn stundenlang über alte Menschen aufgeregt, wie sie sich verkrampft ans Steuer geklammert haben und trotzdem nach allgemeinem Dafürhalten – will sagen dem eigenen – zu langsam für die Mittelspur waren.

Auf einmal ist er ankommen. Und kein Ziel mehr in Sicht, das über die Belanglosigkeit des Jetzt hinweghelfen könnte. Es muss schrecklich sein!

Der Geschwindigkeit auf den Straßen entspricht in Wirtschaft und Gesellschaft die Leistung, mathematisch gesprochen: Arbeit durch Zeit. Und Leute, die sie beständig hochhalten, verachten im Grunde die Arbeit ebenso wie Raser den Weg.

Ein Textilunternehmer und Philosoph – der nicht mehr sehr en vogue ist – aus dem heutigen Wuppertal hat die Arbeit einmal wegen ihres erheblichen “Anteil(s) an der Menschwerdung des Affen” gewürdigt (Friedrich Engels: Dialektik der Natur, 1873 – 1882). Man tut ihr unrecht, wenn man nur den Quotienten betrachtet, den sie mit der Zeit bildet.

Und die Leistungsorientierung zieht auch ganz praktisch seltsame Konsequenzen nach sich. Seit der Pisa-Studie klagt man hierzulande ja gerne darüber, dass die Youngsters nicht mehr so recht lernen in der Schule.

Und um dem abzuhelfen, will Bayern das Gymnasium um ein Jahr verkürzen. Warum das bloß? fragt man sich. Damit man das Elend nicht so lange mit anschauen muss?

Ach ja, die leidige Division durch die Zeit. Mit Geschwindigkeit muss man halt umgehen können.

Sonst passiert einem nämlich was ganz Unangenehmes: Man beeilt sich sein Leben lang, um gegen Ende festzustellen, dass man früher fertig geworden ist. Das ist dann auch blöd.