Lackmus und E-Mail

Franz Müntefering beispielsweise, der SPD-Vorsitzende, dessen Partei am Wahltag in Sachsen nicht viel mehr Stimmen bekommen hat als die NPD.

Franz Müntefering beispielsweise, der SPD-Vorsitzende, dessen Partei am Wahltag in Sachsen nicht viel mehr Stimmen bekommen hat als die NPD. “Das war ein Sonntag, der die Sozialdemokratie auf dem Weg nach vorne gezeigt hat”, befand der. Das musste einem schon gesagt werden, denn von alleine wäre man da wirklich nicht draufgekommen.
Oder der Bundes- und ehemalige Sparkassenpräsident Horst Köhler, der sieht im Wahlerfolg jener Partei, die der Bundesinnenminister nur wegen des Dilettantismus seiner Verfassungsschutzbehörde nicht verbieten hat können, “ein Signal der Bürger in einer lebhaften, lebendigen Demokratie”. Auch da wär’ man nicht so ohne weiteres draufgekommen.

Es ist doch jedes Mal wieder frappierend, wie ein noch so großer Unsinn Politikern ganz locker über die Lippen kommt. Deswegen gefällt einem ja auch das Wort so, das sie in die Politik eingeführt hat.

Edelgard Bulmahn heißt sie, unsere Ministerin für Wissenschaft und Forschung. Und “Lackmustest” heißt das Wort. Edelgard Bulmahn hat es letzte Woche bei der Debatte über den OECD-Bildungsbericht gebraucht.

Und ganz stolz war sie drauf. So stolz, dass auf der Site des Ministeriums, dieses Kleinod deutschen Bildungsguts sogar erläutert wird: Wenn der Papierstreifen rot wird, ist’s eine Säure. Bei einer Base färbt er sich blau.

Ein sehr guter Ansatz! Objektive den Naturwissenschaften entlehnte Prüfverfahren, anstatt der üblichen Beliebigkeitsrhetorik. So solide Sprachbilder bringt halt nur eine ehemalige Studienrätin zustande.

Das wär’ doch auch was für das andere weite Feld, über dem ständig Sprechblasen aufsteigen, die Wirtschaft. Wobei ein bisschen mehr High-Tech als ein Lackmuspapierchen möchte’s da schon sein.

Also der IT- und E-Mail-Test der deutschen Wirtschaft, privat durchgeführt auf einer nichtrepräsentativen Basis im Jahr 5 des 21. Jahrhunderts. Erster Proband: die Tourismusbranche. Service wird dort ja großgeschrieben. Jedenfalls findet sich dieses Zauberwort stolze 223 mal auf der Site des Deutschen Reisebüro- und Reiseveranstalterverbands.

Der Testlauf beginnt vielversprechend: Unmittelbar nach dem Absenden einer Reklamation per Mail an “qualitaet@…” kommt die Antwort: “Um eine schnellstmögliche Bearbeitung werden wir bemüht sein und kommen unaufgefordert auf die Angelegenheit zurück.” Das Script funktioniert demnach gut.

Dann aber endet die Kommunikation abrupt. Reklamationen sind halt auch etwas Unangenehmes.

Zweiter Proband: die deutsche Autoindustrie. “Wir sind stark, wir haben gute Produkte, wir sind innovativ”, verkündet die sogar per Audio-File – gesprochen von ihrem Verbandspräsidenten – im Web.

Und da scheint ja auch was dran zu sein. Schließlich sind neue Modelle längst ein Ensemble aus Design und unzähligen Embedded Systems. Und freie Reparaturwerkstätten müssen dichtmachen, weil sie von den Herstellern keine Diagnose-Software bekommen.

Die müssten doch … Nö, der Kontaktversuch per Mail scheitert, weil man die nicht abrufen könne, wie man später vom Verkäufer des konzerneigenen Autohauses erfährt.

Aber mit dem POT (plain old telephone) klappt’s dann doch. Und zum Probefahren und um den Kaufvertrag zu unterschreiben – dessen Daten auch in die EDV eingegeben werden – da muss man eh zum Händler.

Kurz darauf dann ein Schreiben vom Customer Relationship Management: “Mal was vergessen, ohne vergessen zu werden” steht über der persönlichen Ansprache. Womit bewiesen wäre, dass die konzerneigene CRM-Software die Verarbeitung von Textbausteinen beherrscht.

Und auf der beigelegten Antwortpostkarte kann man ankreuzen, dass man keine Probefahrt mehr machen will, weil man sich bereits für ein Modell entschieden hat, was allerdings auch aus dem Kaufvertrag ersichtlich sein sollte.

Kurz vor dem vereinbarten Liefertermin ein weiterer Brief: “Wahrscheinlich hatten Sie schon einmal Kontakt mit uns.”. Leider liegt diesmal keine Antwortpostkarte bei, auf der man ankreuzen könnte: “Ja, als ich mein Auto gekauft habe.”

Vielleicht ist die Sache mit den Tests doch etwas zu anspruchsvoll. Und so schlimm ist es ja auch wieder nicht, als Kunde in Form von Textbausteinen – oder ganz einfach so – missachtet zu werden.

Es gibt schlimmeres. Manche Leute mailen ja Politikern. Und sowas könnte böse enden, beispielsweise wenn Münte dann per Mail seine Auffassungen über die vier Grundrechenarten darlegen würde – oder unser Bundespräsident die seinen über die Demokratie.