Nicht gestellte Vertrauensfragen

Wenn dieser Wochenrückblick per Mail ankommt, dann ist’s vielleicht gerade soweit: Der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland stellt die Vertrauensfrage nach Artikel 68 Grundgesetz.

Verantwortungsbewusst und staatsmännisch handelt er, indem er so verfährt. Was insoweit bemerkenswert ist, als dass man sich kaum noch dran erinnert, wann der Mann das letzte Mal sowas gemacht hat. Dankenswert aber ist es vor allem deshalb, weil das Leben ansonsten ein Abfolge nicht gestellter Vertrauensfragen ist.

Dass Vertrauen häufig etwas fragwürdiges ist, darauf hätte man ja schon als Kind kommen können, damals, als man – trotz seiner darüber völlig entnervten Eltern – mehrmals täglich die Dschungelbuch-Schallplatte aufgelegt hat. “Hör’ auf mich, glaube mir”, singt da die Schlange Kaa Mogli in den Schlaf, während sie sich anschickt, ihn zu verschlingen: “Augen zu, vertraue mir.”

Es hätte ein Schlüsselerlebnis werden können: Ist Kaa doch so etwas wie der Archetyp des modernen Politikers. Sie fragt nicht. Ihr Erfolgsrezept heißt Vertrauen, obwohl jeder, der mit offen Augen durchs Leben geht, doch wissen müsste, wozu sowas führt. Deshalb: “Augen zu, vertraue mir.”

Wer weiß: Wenn eine bundesdeutsche Partei sich hätte entschließen können, Kaa als Kandidatin aufzubauen, vielleicht wäre dem geschundenen Land dann eine Kanzlerin Merkel und ein Vize-Kanzler Westerwelle erspart geblieben.

Später dann, wenn man geschäftsfähig geworden ist, stellt man fest, dass immer, wenn man auf die Nase fällt, vorher von Vertrauen die Rede gewesen ist. Bei Geldgeschäften und beim Autokauf passiert einem das ja besonders leicht.

Dementsprechend verbreitet sind Slogans wie “Bank Ihres Vertrauens” und “Gebrauchtwagenkauf ist Vertrauenssache”. Und wenn sich Unternehmen zusammenschließen, um ihren Kunden gemeinsam höhere Preise abzupressen, dann nennen sie auch dies Trust. Trust ist das englische Wort für Vertrauen.

Microsoft spricht gar von “trustworthy computing”, was geradezu idealtypisch ist: Um was es dabei geht, ist nicht so recht klar. Deshalb soll man ja vertrauen. Sonst bräuchte man das schließlich nicht, weil man weiß. Beziehungsweise – was wahrscheinlicher ist – man könnte es nicht, weil man weiß.

Feststeht beim “trustworthy computing” nur, dass die Zertifizierung von Programmen und Daten eine zentrale Rolle spielt. Schad-Software läuft dann nicht, weil niemand sie zertifiziert hat.

Vielleicht aber auch nicht die guten MP3s, mit denen sich jüngere User gerne kostengünstig auf Tauschbörsen eindecken. Oder Freeware, die’s genauso kostengünstig – und legal noch dazu – von der Open-Soure-Community gibt. Genaueres weiß man nicht und wird es wohl auch nie erfahren. Windows ist schließlich nicht Open Source.

Man muss schon sehr vertrauensselig sein, um Bill Gates völlig die Hoheit über seinen Rechner einzuräumen. Wobei Microsoft, was die Vertrauenswürdigkeit anbelangt, irgendwo zwischen der Schlange Kaa und Guido Westerwelle rangieren dürfte. Aber danach fragt einen ja keiner von den dreien.

Unlängst haben Forscher an der Universität Zürich herausgefunden, durch welches Hormon eine Atmosphäre der Vertrautheit entsteht. Oxytocin heißt es.

Der Körper einer Mutter produziert es beim Stillen. Und die Körper, an denen sich zwei Liebende erfreuen, während ihr gemeinsames Spiel sich dem Höhepunkt nähert.

Auch in solchen Situationen bleibt die Vertrauensfrage ungestellt. Allerdings ausnahmsweise aus guten Gründen: Da ist sie einfach überflüssig.

Nicht so aber in der Politik. Der klassische Merksatz zum Thema relativiert denn auch die Rolle des Vertrauens auf diesem Feld: “Vertrauen ist gut, Kontrolle besser.”

Dem Gründer der Sowjetunion wird er zugeschrieben. Wie Recht der damit hatte, zeigt die Entwicklung, die dieses Staatswesen spätestens seit dem Nachfolger des Gründers genommen hat. Da wurde dieser Merksatz sträflich außer Acht gelassen.

Im Deutschland des 21. Jahrhunderts geht man das Problem des Vertrauens in der Politik weniger grundsätzlich an. Hier traf sich nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen der dritte Mann dieses Staats – der Bundeskanzler – mit dem ersten – dem Präsidenten, um mit jenem ein vertrauliches Gespräch in Sachen Vertrauensfrage zu führen. Details daraus standen anschließend im Spiegel.

Der logische Schluss aus diesem Umstand lautet wohl: Einem von beiden kann man nicht so recht trauen. Des Kanzlers Partei aber, der jener wiederum laut Spiegel nicht mehr vertraut, die zieht daraus eine weitere – nicht ganz so saubere – Konklusion: Der Bundespräsident habe den Vertrauensbruch begangen.

Daraufhin erklärt der Kanzler, er habe “volles Vertrauen” in den Bundespräsidenten. Und: “Das gilt auch für die Wahrung der Vertraulichkeit unserer Gespräche.” Damit das Amt des ersten Mannes nicht beschädigt wird, sagt er das.

Wenn von zweien einer geplaudert hat, und einer sagt, der andere sei’s nicht gewesen, dann muss das Amt jenes anderen doch schon arg in Mitleidenschaft gezogen worden sein, wenn er die Vertrauensbekundung ausgerechnet dieses einen braucht.

Aber wie dem auch sei: Der eine stellt heute die Vertrauensfrage. – “Excellent Question”, würde ein US-Manager in einer vergleichbaren Situation wohl sagen. Das tun die immer, wenn sie erst einmal Zeit brauchen, um nachzudenken, wie sie einen am besten behumsen können.

Die Regierungskoalition fand das auch. Die brauchte ebenfalls Zeit zum Nachdenken.

Die paar Wenigen, die noch offiziell Vertrauen in den Kanzler haben – zwangsweise, weil daran ihre schönen Jobs in Berlin hängen – die dürfen das nämlich nicht sagen. Sonst geht die Vertrauensabstimmung nicht so aus, wie vom Kanzler gewünscht. Ein verweigertes Misstrauen aber wäre ein veritables Misstrauen.

So schwierig kann’s sein. Aber man kann da schon drauf vertrauen, dass unsere Politiker, einschließlich des ersten und des dritten Mannes, das hinbekommen – das Grundgesetz so zurechtzubiegen, dass rauskommt, was soll.

Und die absehbare Antwort geht ja auch in Ordnung. Schön wäre es da, wenn noch andere die Vertrauensfrage stellen würden, die Schlange Kaa und Bill Gates beispielsweise.