Ein Betriebssystem im Lebkuchenmodus

Anfang 2006 lebte die IT-Welt noch in dem festen Glauben, dass das Christkind auch dieses Jahr kommen und zum ersten Mal seit sechs Jahren ein neues Betriebssystem aus Redmond unter den Baum legen wird. Doch dann kam alles anders.

Schon im März überraschte uns Microsoft mit der Ankündigung, dass es nix mehr wird in diesem Jahr mit Vista. Wer aber dachte, damit würde es etwas ruhiger um den XP-Nachfolger, hatte sich gründlich getäuscht. In Redmond schien man diesmal die aus dem Angelsport bekannt Taktik des “Anfütterns” perfektionieren zu wollen. 

Je weiter das Jahr voranschritt, desto ungebremster sickerten Details durch. In den seltensten Fällen war es wohl tatsächlich eine Panne in der Öffentlichkeitsarbeit, meist kann man getrost volle Absicht unterstellen. Spätestens nach Abschluss der Betaphase 2 gab es kaum noch ein Halten.

Seit Ende November ist Vista nun für Firmenkunden verfügbar, für Privatanwender wird es Ende Januar soweit sein – dieser Termin gilt in der Regel als “eigentlicher Verkaufsstart”. Tschüss Weihnachtsgeschäft. Da helfen auch Gutscheine für vorweihnachtliche Hardware-Einkäufe nur wenig. 
   
Diese waren wohl genauso wie die Info-Tröpfelei als Appetit-Häppchen gedacht, am Ende ähnelte das Ganze allerdings an die Maßlosigkeit von Supermärkten, die ihre Regale bereits ab September mit Lebkuchen und Weihnachtssüßigkeiten voll stopfen. Die meisten Kunden können sich dann trotz der besten Vorsätze doch nicht beherrschen und haben bis zum 1. Advent mehr Dominosteine gegessen als ihnen gut tut. Soll heißen: Noch vor der großen Vista-Bescherung wissen die meisten Anwender aus dritter Hand bereits so viel über Neuheiten und Tools, dass sie anfangen sich zu langweilen.

Denn wie von Microsofts PR-Mannschaft berechnet, stürzt sich die Öffentlichkeit seit Monaten – gar Jahren – bereitwillig auf jedes Häppchen, das ihnen zugeworfen wird. Eine Handvoll neue Details beschäftigen die Branche so locker eine Woche und auch wenn nicht immer das geschrieben wurde, was Steve Ballmer gerne gelesen hätte, gilt auch in Redmond der Grundsatz: Schlechte Schlagzeilen sind besser als gar keine.

Denn wenn es um den Softwaregiganten geht, ist für die meisten IT-Profis Schadenfreude die schönste Freude. Ein Microsoft-Betriebssystem, das gepatcht wird, noch bevor es auf dem Markt ist, überhaupt so löchrig ist, wie man sich das natürlich gleich gedacht hat, neue Streitereien in der Branche anfacht, die Marktforscher nicht überzeugt, die Hardware-Kosten in die Höhe und die EU zur Raserei treibt – das ist Wasser auf den Mühlen einer Branche, die zu nicht geringen Teilen von Microsoft abhängt und den Konzern dafür umso weniger leiden kann.

Auf die tatsächlichen Absatzzahlen wird dieses Getöse am Ende nicht viel Einfluss haben. Die wenigsten Privatanwender haben Lust und Nerven, um ihre Freizeit Microsoft-Alternativen zu widmen. Und Unternehmen müssen ohnehin individuell entscheiden, ob, wann und wie der Umstieg auf Vista für sie am sinnvollsten ist. 

Sicher: Ein gewisses Völlegefühl bleibt aus der Vista-Pre-Launch-Phase. Aber nur weil man sich an den Weihnachtsfeiertagen überfressen hat, verzichtet man ja auch nicht gleich auf das Silvestermenü. Frei nach Motto: “A bissl was geht immer!”