Das neue soziale Netz

Der schönste Teil der Zeilenschreiber-Arbeit besteht darin, bei einem Cabernet Sauvignon die vergangenen Tage Revue passieren zu lassen und in Worte zu kleiden, was einem dazu durch den Kopf geht. silicon.de schreibt da dann “Wochenrückblick” drüber und mailt diesen an die Leser. Der Cabernet hat bereits Gaumen und die Lust am Formulieren angeregt…

Da klingelt das Telefon. Mit “Weinhaus…” meldet sich die Anruferin. Sie spricht in jenem Ton, den man gegenüber Haustieren anschlägt, bevor man ihnen ein Guti gibt, oder gegenüber kleinen Kindern und alten Menschen, mit denen man hierzulande oft glaubt, ähnlich reden zu müssen wie mit Haustieren.

Das Weinhaus führe gerade eine Umfrage durch, erläutert die Anruferin. Und ob man denn wisse, dass ein Gläschen Wein hin und wieder gesund sei. – Der Telefonhörer sucht und findet seinen ruhestiftenden Platz auf der Gabel.

Vielleicht aber sollte man derartiges doch auch einmal positiv sehen. Schließlich ist diese Branche ein Beschäftigungsmotor.

“Rund 400.000 Menschen arbeiten heute in Call Centern”, schreibt der Deutsche Direktmarketing Verband auf seiner Webseite, “in den vergangenen zehn Jahren sind 300.000 Arbeitsplätze neu entstanden.”

Und auch Franz Hochstrasser, Direktor der österreichischen Justizvollzugsanstalt Graz-Karlau, aus dessen Gefängnis heraus inhaftierte Straftäter im Auftrag der deutschen Firma Myphone Handy-Verträge an den Mann bringen, ist sehr angetan davon. “Das ist eine zeitgemäße Arbeit”, beschied er der örtlichen “Kleine Zeitung”.

Der Schreiber geht in sich. Möglicherweise ist er ja nur deshalb verstimmt, weil er sich angeredet fühlt, als trinke er den Cabernet bereits aus der Schnabeltasse.

Eine der Webseiten mit den Meldungen über Call-Center traut einem aber immerhin noch zu, ein Kraftfahrzeug zu lenken. “Sehr geehrter Internet Nutzer” blinkt ein Pop-up “online am 27.03.2008 um 17:54 Uhr”. “Unser Zufallsgenerator hat Sie soeben unter allen Nutzern dieser Seite als möglichen Audi A3 Gewinner ausgesucht.”

Schon deutlich milder gestimmt, parkt man das Gefährt in der virtuellen Tiefgarage, wo all die anderen möglichen Limousinen stehen. Doch, auch diese Branche ist, beschäftigungspolitisch gesehen, ein reiner Segen.

Der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft hat auf seiner Webseite sogar eine eigene Rubrik “Arbeitsplätze”. Um 27 Prozent – so die letzte Meldung – sei deren Zahl bei den Mitgliedsfirmen wieder binnen Jahresfrist gestiegen.

Ja, und sogar der eigene Arbeitsplatz hängt an der Werbung. Das war das erste, was der Schreiber gelernt hat, als er vor Jahren bei einer IT-Publikation anfing, dass er nicht dafür bezahlt wird, etwa Artikel über cc-NUMA (Cache Coherent Non Uniform Memory Access) zu verfassen, sondern dafür, ein “attraktives redaktionelles Umfeld” für Anzeigenkunden zu schaffen. Das, woran des Schreibers Herzblut klebt, ist dem Verleger nämlich ein bloßes Umfeld fürs Wesentliche.

Schrille Musik lässt den Schreiber aufschrecken. Ein Banner auf einer geöffneten Seite macht damit auf sich aufmerksam.

Dann ist ja alles gut: Man hat sich im zum Wohle der deutschen Wirtschaft erschrocken. Eine Milliarde Euro haben Webseiten hierzulande im vergangenen Jahr mit Online-Werbung umgesetzt. So die Zahlen des Branchenverbands Bitkom. Ein warmer Regen für die Konjunktur!

Outlook gibt laut. Eine neue Mail ist eingetroffen – eine Pressemitteilung. “Kaffeeproduzent bringt Arbeitsplätze nach Sachsen-Anhalt”, ist sie überschrieben.

Ja, dann. Zu fragen, warum denn eine PR-Agentur, die wohl auch eine IT-Firma unter ihrer Kundschaft hat und so an die Mail-Adresse des Schreibers gekommen ist, zu fragen, warum die einem ihren gesamten Output ungefiltert in den Posteingangsordner schwemmt, wäre da doch sehr kleinlich.

“Sozial ist, was Arbeit schafft”, lautet schließlich das Argument der Bundeskanzlerin, gegen das etwas zu sagen, sich niemand so recht traut. Unter diesem Gesichtspunkt muss man wohl Spam, Pop-ups und Cold Calls so betrachten, als kämen sie von der Caritas.

Wieder klingelt das Telefon und bewahrt den Schreiber davor, das Credo der Bundeskanzlerin konsequent zuende zu denken. “Hallo, Sie sind in unsere Warteschleife geraten”, sagt eine fröhliche Frauenstimme vom Band. Als kleine Entschädigung für die Störung könne man aber an einem Gewinnspiel mit garantierten Preisen teilnehmen. Man müsse nur noch die folgende Rufnummer wählen.

“Null – neun – null” diktiert die Stimme. Im rechten Licht besehen, ist das ebenfalls sehr sozial. Schließlich wächst der Anteil der 0900er Nummern an den Erlösen aus Mehrwertdiensten beständig. Das geht aus der Statistik des Verbands der Anbieter von Telekommunikations- und Mehrwertdiensten ganz eindeutig hervor. Und wie viele Arbeitsplätze da wieder dranhängen!

Den Schreiber treibt derweil die Frage um, was er jetzt mit der angebrochenen Flasche Cabernet Sauvignon anfangen soll. Vielleicht einen Toast auf all die verkannten Sozialarbeiter ausbringen?

Oder doch lieber seinen Kummer darüber ertränken, dass das mit dem musevollen Fabulieren heute Abend nichts mehr wird? – Stattdessen muss man sich von Werbung behelligen lassen.

Aber egal. Es ist ja für einen guten Zweck.