Phänomenologie der Informationsgesellschaft

Was denn so schlimm sei am Internet, wollte der Schreiber unlängst von einem Professor wissen, der an der Welt und am Netz zu verzweifeln schien. Der Kommerz? Die Pornographie? Der Cyberwar? – “Nein”, jammerte der Befragte, “Wikipedia”.

Eine solche Klage mag erstaunlich klingen, sind ansonsten Männer und Frauen der Wissenschaft Enzyklopädisten doch sehr zugetan. Tatsächlich aber wird sie allenthalben erhoben.

Und seit einem Artikel im Ontario University Report vom April dieses Jahres gibt es sogar einen Namen dafür – für das, was die Professorenschaft derart grämt: die “Wikipedia-Kids”. Studenten brächten nicht mehr das Zeug zum Wissenschaftler mit, heißt es, sondern seien “überabhängig von Internet-Tools wie Wikipedia”. Sie verstünden sich nicht mehr aufs Forschen, sondern nur noch auf Copy and Paste.

Na ja, was will man erwarten in einer Zeit, in der die obersten Gebote “quick and dirty” heißen? Selbst einer der barmenden Professoren hat so gearbeitet: Er hat die Bezeichnung einer Personengruppe mit einem Begriff aus der I+K-Technik zusammengeklickt. Und fertig war die soziologische Typisierung.

Und was will man erwarten von Studenten, die so schnell studieren, wie Turbo-Soziologen klicken? So jemand hat doch zwangsweise irgendwann einmal für einen Multiple-Choice-Test auswendig gelernt, die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkte sei die Gerade, und kommt nie darauf, dass es stets der Umweg ist, der zum Ziel führt. Umwege machen sich außerdem ganz schlecht im Resümee.

An sich ist die Klick-Methode ja eine feine Sache. Aber man sollte darauf achten, dass der rechte Zeigefinger nicht mit einem durchgeht und man nicht auf so etwas Tolles wie die Online-Enzyklopädie kommt.

Sehr viel besser als “Wikipedia-Kid” träfe doch “Facebook-Student” auf jemanden zu, der die sechs Semester bis zum Bachelor seinen Avatar zum Leben ins Second Life schickt, um derweil konzentriert Credit Points sammeln zu können. (So heißt inzwischen das, was man früher gute Noten nannte.)

Zur Charakterbildung trägt dessen Studium sicherlich nicht bei. Aber beim Profil im sozialen Netzwerk macht es etwas her.

Auch bei der Einordnung von Angela Merkel könnte die Klick-Methodik hilfreich sein: Unter welcher Bezeichnung wird die einmal in die Geschichte eingehen?

Bei ihren Vorgängern ist das ja klar. Die nannte man schon zu ihren Amtszeiten den “Alten”, “Vater der sozialen Marktwirtschaft”, “Macher” oder “Kanzler der Einheit”.

Willy Brandt war der große Visionär unter den deutschen Regierungschefs. Er sorgte dafür, dass mit ihm erstmals ein Sozialdemokrat Bundeskanzler werden konnte. Und Gerhard Schröder sorgte dafür, dass nach ihm das nie mehr wieder geschehen wird.

All diese Staatsmänner haben das Volk emotional bewegt. Manchmal wurden sie für ihre Politik geliebt, häufiger gehasst. Was aber lässt sich über Angela Merkel sagen? – Sicherlich wird man sie einmal “die simsende Kanzlerin” nennen. Das trifft’s am besten. Es klingt nach Schnelligkeit, Effizienz und durchregierter Langeweile.

Die Leute in Deutschland würden wohl kaum sagen, dass Angela Merkel ihnen etwas zu sagen hätte. Die Leute im Regierungsapparat hingegen wissen, dass Angela Merkel ihnen etwas zu sagen hat. Und deshalb ist die Kurzmitteilung das adäquate Medium der Kanzlerin. Eine Anordnung ist schließlich keine Ode. Dafür reichen 140 Zeichen durchaus.

Konzentrisch um die SMS-Kanzlerin herum sind – Software-Layern gleich – die übrigen Sphären der Politik angelagert. Zunächst jene der realen Politiker, die zu ihrem eigenen Bedauern – wenn auch nicht unbedingt dem der Bürger – nicht so mächtig sind wie die oberste Simse.

Auf diesem Layer versucht man, die mangelnde Wichtigkeit seiner Kurzbotschaften durch die Zahl der Adressaten zu kompensieren. Es ist die Sphäre der Tweets. Hier harren die Twitter-Politiker auf höhere Aufgaben.

Eigens für die Bundestagswahl nächsten Monat wurde dann noch ein Abstraktions-Layer im politischen System der deutschen Informationsgesellschaft eingezogen. Darauf laufen die rein virtuellen Parteien.