Wenn das ERP-System am Anwender vorbeirauscht

“Alles-in-einem-Systeme bemühen sich oft, durch vorkonfigurierte Systemlösungen ihre Schwerfälligkeit und Komplexität zu kaschieren.” Dieser Ansicht ist Dr. Christian Riethmüller, Chef des Beratungshauses CERPOS. “Dabei werden die Anwender vergessen.” Das eigentliche Ziel der Unternehmen, sich durch die Sorge um die IT endlich den eigenen Kernkompetenzen zuwenden zu können, ist damit natürlich nicht genügend abgedeckt, kritisiert der Berater im Interview mit silicon.de.

silicon.de: Soll das heißen, man muss nur lange genug “herummurksen”, bis das ERP-System endlich Sinn ergibt?

Riethmüller: “panta rhei”, alles fließt, ist eine Metapher für die Prozessualität der Welt, für den ständigen Wandel – Systeme müssen in der Lage sein, zur Laufzeit neue Attribute, Assoziationen, Klassen hinzuzufügen und Prozesse oder Prozessschritte einzuführen, verändern, oder beseitigen zu können. Auf dieser Grundlage sind die Systeme zu bewerten. Durch Ergänzungen in der Lösung erhält der Anwender zusätzliche Funktionalität, aber das System erhält dadurch keine neuen Eigenschaften, der Beton bleibt. Nur generelle Neuentwicklung kann hier helfen. Wenn das Unternehmen das System “verbiegt”, treten Probleme auf. Dazu zählen der Verlust der Updatefähigkeit, die Erhöhung der Komplexität oder die Steigerung der Administrationskosten. Das Unternehmen verbaut sich die Weiterentwicklung, und das bei den kontinuierlich steigenden Anforderungen an Systeme, die sich durch unsere Umwelt ergeben. Die Weiterentwicklung des Systems in die eigene Hand zu nehmen, führt in die Sackgasse.

silicon.de: Sind die von Ihnen beobachteten Fehler damit zu begründen, dass technologisches Know-how fehlt?

Riethmüller: Nein, es fehlt nicht an technologischem Know-how. Es wird falsch eingesetzt. Solange Technologen die Anwendung ausgestalten, werden wir zu keinem befriedigenden Ergebnis gelangen. Wir treffen auf unterschiedliche Typen von Auswahlfehlern. Ein Unternehmen übernimmt ein Partnerunternehmen und oktroyiert die eigene Lösung dem neuen Firmenmitglied auf, obwohl ihm dessen Anwendung nur schemenhaft bekannt ist. Oft wird zu verbissen um die eigene Lösung gekämpft und selbst konstruktive Kritik als eher lästig empfunden. Das Problem ist, dass wir ERP-Lösungen nur aus der technologischen Sicht serviert bekommen. Die Technologen sorgen aber für den Beton. Relationale Modelle sind wenig geeignet, unsere komplexe Welt abzubilden. Wir müssen nach anderen Verfahren und Techniken suchen: Objektorientierte Datenbanken könnten dafür ein Ansatz sein.

silicon.de: Können Sie das anhand eines Beispiels verdeutlichen?

Riethmüller: Ich erwarte, dass ich nach der Installation eines ERP-Systems nicht bereits durch Parametrierungen, Customizing-Einstellungen oder Pflichtfeldern derart eingeengt werde, dass ich genötigt bin, Daten zu erfassen, die ich nicht benötige. Ich möchte im System variabel festlegen, dass ein Feld ein Pflichtfeld ist – die Anwendung bestimmt dies, nicht der Technologe. Da gibt es Systeme, in denen sich eine Postfachadresse nicht allein mit der Postleitzahl des Postfaches oder dem zugehörigen Ort erfassen lässt, der Anwender wird gezwungen, Postleitzahl und Ort gleichfalls zu erfassen. Außerdem sollte es natürlich möglich sein, Lagerbewegungen in der zweckmäßigen Mengeneinheit zu buchen. So erwarte ich, dass Inventurbuchungen aus organisatorischen Gründen in Kilogramm erfolgen können, obwohl die Basismengeneinheit Meter ist. Es darf nicht sein, dass dann Kilogramm als Basismengeneinheit verwendet werden muss, wodurch der Anwender in der Stückliste Längen und Breiten statt in Millimetern in Kilogramm angeben muss. Eine unakzeptable Mühsal! Da zeigen die Technologen, mit welcher Anwenderferne sie Funktionen konzipieren. Dabei sollte es doch möglich sein, die Meterwerte automatisch zu ermitteln, wenn die Umrechnungsfaktoren vorgegeben sind.