Weißer Stier und trojanisches Pferd

Europa hat Probleme wegen der Griechen, heißt’s. Von wegen! Die Probleme haben die Griechen. Und sie begannen in mythischer Vorzeit.

Ach ja, die Griechen. Die haben am Wochenende ja auch demonstriert. Nicht nur die ACTA-Gegner. Wobei sie, die griechischen Demonstranten, in Europa bei weitem nicht so viel Sympathie (griechisch für: Mitgefühl) erfahren wie die gegen Internet-Zensur und -Überwachung.

Das “Wochenende der Wahrheit für Pleite-Griechen” sei’s gewesen, findet Europas auflagenstärkste Zeitung. Das gibt einem zu denken, wozu dieses Blatt ansonsten eigentlich nicht so sehr anregt.

Wie sieht sie denn wirklich aus, die Wahrheit über die Griechen und Europa? – Ursprünglich war’s ja eine Liebesgeschichte.

Der oberste Grieche, wie seinerzeit üblich: ein Gott, verguckte sich in eine morgenländische Schönheit. Er verwandelte sich also in einen weißen Stier und schwamm mit der Schönen auf dem Rücken nach Kreta.

Dort machten die beiden sich dann lustvoll daran, das Führungspersonal für die erste Hochkultur auf dem Kontinent, zu dem diese Insel gehört, in die Welt zu setzen. Diese Kultur bezeichneten Historiker später als die minoische.

Und der Kontinent wurde – auf Vorschlag der Liebesgöttin Aphrodite – nach dem Gschbusi des Griechen benannt, also: Europa. So jedenfalls beschreibt es Homer, der mit seiner Ilias, der Geschichte vom trojanischen Pferd, die europäische Literatur begründete.

Ein halbes Jahrtausend später dann befindet ein Grieche Namens Solon, das Führungspersonal mittels göttlicher Zeugung zu generieren, sei zwar für die unmittelbar Beteiligten ein ausgesprochen schönes Verfahren, das aber nicht immer zu optimalen Ergebnissen führt. Er erfindet deswegen die Demokratie. Und damit die funktioniert, schafft er als erstes die Schuldknechtschaft ab.

Vielleicht hat er, als er auf diese Idee gekommen ist, auch schon “Heureka!” (griechisch für: “Ich hab’s!”) ausgerufen wie später sein Landsmann Archimedes. Jener war der bedeutendste Mathematiker der Antike.

Vom Standpunkt der Moderne aus würde man ihn als Informatiker bezeichnen. Das wäre dann ein Paradigmen-Wechsel, ein Wort, das auf den Griechen Aristoteles zurückgeht.

Aus all dem wird ersichtlich, dass die Informationsgesellschaft ohne die kulturelle Leistung der Griechen sprachlos wäre. Paradigm-Shift ist ihr beliebtestes Buzz Word. Und trojanisches Pferd heißt ihr variantenreichstes Software-Produkt. Dessen viele Versionen lassen sich mittlerweile nur noch mittels heuristischer Verfahren entdecken.

Als Demokratie wiederum gilt heute, wenn Politiker twittern, weil das sich so volksnah ausnimmt (von griechisch: demos – das Volk). Und Europa, modern EMEA (Europe, Middle-East, Africa) genannt, ist einer der wichtigsten IT- und Märkte überhaupt.

Und jetzt, drei tausend Jahre nach Homer und zweieinhalb tausend nach Solon, kommt Europa, einst vom Stier entführt, als trojanisches Pferd an die Ägäis zurück. Zwei große korrupte Parteien hat Griechenland. Aus Gründen der Schadensminimierung wählt das dortige Demos jeweils nur eine davon an die Regierung. Das ist Demokratie.

Europa aber hat dem Land eine aus beiden Parteien gebildete verordnet. Und die mussten dann noch zusichern, dass sie sich nicht durch die demokratischen Wahlen im April heuer beeindrucken lassen werden. Parlamentarier, die am Wochenende gegen das Sparpaket stimmten, wurden umgehend aus ihren Fraktionen ausgeschlossen, obwohl man doch ansonsten in Europa die Gewissensfreiheit des Abgeordneten für ein Wesensmerkmal der Demokratie hält.

Von seinen Gläubigern so ein Sparpaket aufgedrückt zu bekommen, muss sich ein überschuldeter Staat wohl gefallen lassen. Wie aber die Senkung der Löhne in der Privatwirtschaft, einschließlich des Mindestlohns, zu einer Erhöhung der Staatseinnahmen beitragen soll, wo doch in Griechenland eh nur die Arbeitsmänner und –frauen Steuern bezahlen, das entzieht sich jedweder Logik – auch so’n griechisches Wort, von dessen ursprünglicher Bedeutung derzeit niemand etwas wissen will.

Es handelt sich dabei denn auch um ein wirtschaftspolitisches Paradigma, übersetzt etwa: eine Weltsicht. Die wirkt, so unlogisch sie auch sein mag.

Na ja, und darüber haben viele Griechen wohl nachgedacht, über Stiere und Pferde, über die vielen komplizierten Begriffe, die ihre Kultur hervorgebracht hat, über die Verballhornungen, die jene erfahren haben und mit denen sie jetzt zurückkommen. Mancher hat dann wohl “Heureka!” gerufen und ist demonstrieren gegangen.