Industrie 4.0: Digitaler Aktionismus führt in die Sackgasse

Industrie 4.0 (Shutterstock/Adam Vilimek)

Wie Unternehmen durch eine kundenzentrierte Strategie nachhaltige Differenzierungsmöglichkeiten zum Wettbewerb schaffen und durch Mehrwert-Services neue Umsatzmöglichkeiten erschließen können, erklärt Frank Engelhardt anhand von Praxisbeispielen in diesem Gastbeitrag für silicon.de.

Die Analysten von Gartner prognostizieren 20 Milliarden IoT (Internet of Things)-Geräte bis 2020, die umfassende Vernetzung ist scheinbar nicht mehr aufzuhalten. Spannende Anwendungsfälle wie beim Connected Car stehen dabei beispielhaft für die unzähligen neuen Geschäftschancen, die für Unternehmen aller Branchen entstehen.

Frank Engelhardt, der Autor dieses Gastbeitrags für silicon.de, ist Vice President Enterprise Strategy Central Europe bei Salesforce (Bild: Salesforce).
Frank Engelhardt, der Autor dieses Gastbeitrags für silicon.de, ist Vice President Enterprise Strategy
Central Europe bei Salesforce (Bild: Salesforce)
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Während Start-ups dieses Potenzial praktisch von der grünen Wiese aus adressieren können, stehen etablierte Unternehmen vor einer ungleich größeren Herausforderung. Sie müssen ihre bestehenden Produkte und Services nicht nur so anpassen, dass sie die Chancen des IoT nutzen. Sie stehen zusätzlich unter großem Zeitdruck, denn Geschwindigkeit ist zur wichtigsten Währung unserer Ära geworden.

Leider verleitet dieser Druck viele Entscheider zu einer Art “digitalem Aktionismus”, der oft dazu führt, dass Produkte alleine durch das Anbringen eines Sensors “smart” gemacht werden sollen. Dabei sollten Unternehmen Themen und Trends nie in erster Linie unter technologischen Aspekten, sondern primär aus der Perspektive ihres wichtigsten Stakeholders betrachten: des Kunden. Denn hinter jedem vernetzten Produkt oder Gerät steckt ein Mensch. Und der erwartet Angebote, die auf der Basis der Möglichkeiten digitaler Technologien auch tatsächlich einen Mehrwert liefern.

Eine der größten Chancen im Zusammenhang mit IoT liegt in der richtigen Verwendung der gewonnenen Daten. Sie sind die Basis, um neue Umsatzquellen zu erschließen, eine deutliche Differenzierung vom Wettbewerb zu erreichen und vor allem, Kunden nachhaltig zu begeistern und zu binden. Im Zentrum stehen dabei jedoch nicht länger Produkte, sondern Services.

Services lösen Produkte als Umsatzmotor ab

Diese Entwicklung ist für Entscheider nicht neu, sondern wird inzwischen auch im eher traditionellen Industrieumfeld ernst genommen, wie der im Auftrag von Salesforce erstellte, internationale “Connected Manufacturing Service Report 2016” belegt. Demnach sind 56 Prozent der in Deutschland befragten Führungskräfte überzeugt, dass in spätestens zehn Jahren der Löwenanteil ihres Umsatzes nicht länger über den Vertrieb von Produkten generiert wird. Als wichtigste Einnahmequelle werden stattdessen Services das Produkt überflügeln.

Das ist wenig überraschend, denn in der globalisierten Wirtschaft ist ein vergleichbares Produkt mit fast identischen Eigenschaften, Vorteilen und einem vielleicht sogar niedrigeren Preis oft nur einen Mausklick entfernt. Daher sind Servicequalität und intelligente Zusatzangebote im heutigen Wettbewerbsumfeld längst mehr als nur ein weicher Faktor.

Erfolgreiche Vorreiter

Doch wie lässt sich ein klassisches Produkt durch das Hinzufügen eines Sensors, die Verwendung gewonnener Daten und ein entsprechendes Service-Ökosystem plötzlich smart und zukunftssicher machen?

Smartes Heizungsthermostat von Honeywell (Bild: Honeywell)
Smartes Heizungsthermostat von Honeywell (Bild: Honeywell)

Ein interessantes Beispiel liefert der US-amerikanische Heiztechnik-Konzern Honeywell. Im Sinne einer Smart-Home-Lösung zählten Heizungsthermostate zu den ersten weitgehend als vernetzt beziehungsweise smart zu bezeichnenden Geräten im häuslichen Umfeld. Zunächst stand dabei in erster Linie die bequemere Steuerung über Apps und Software via Internet im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Honeywell hat diese Möglichkeiten jedoch neu durchdacht und um ein Servicepaket erweitert, das echten Mehrwert bringt. Davon profitieren neben den Kunden nicht nur der Hersteller, sondern auch hunderte von Servicepartnern und Installationsfirmen.

Vernetzt mit dem Service

So können Honeywell-Kunden dank der vernetzten Thermostate nicht nur die Temperatur und den Energieverbrauch in ihrem Zuhause verwalten und überwachen – selbstverständlich über eine App, die das auch von unterwegs ermöglicht. Die Thermostate erinnern sie auch selbstständig an fällige Routineinspektionen der Heiz- und Kühlanlagen und senden Benachrichtigungen, wenn Filter auszutauschen sind oder extreme Temperaturen erkannt werden.

Was die Lösung jedoch einzigartig macht, ist, dass Kunden auf Wunsch mit dem Service-Netzwerk von Honeywell vernetzt werden können. So können Kunden ihre Heiz- und Kühlsysteme effizienter betreiben. Die Techniker sehen zudem automatisch, wann Geräte gewartet werden müssen und können dadurch rechtzeitig und proaktiv Termine vereinbaren. Bei Problemen wird automatisch der zuständige Vertragspartner benachrichtigt und kann eine erste Ferndiagnose stellen. Dadurch ist gewährleistet, dass beim Reparaturtermin die richtigen Ersatzteile im Lieferwagen liegen und die Wartungsmaßnahmen schnellstmöglich abgeschlossen werden.

Kundenzufriedenheit sicherstellen

Doch auch Vertreter anderer Branchen haben sich die Macht der Vernetzung zunutze gemacht, um in ihrem immer schwieriger werdenden Marktumfeld durch Innovation die Zukunft zu sichern. Dazu gehört auch der Druckmaschinenhersteller Koenig & Bauer (KBA). Einige Marktfelder stagnieren, wieder andere sind geprägt von einem harten Verdrängungswettbewerb. Das IoT wird von KBA deshalb als technische Basis für eine sinnvolle Erweiterung des Geschäftsmodells um Zusatzdienste betrachtet.

Ein gutes Beispiel für die sinnvolle Nutzung von IoT und Industrie 4.0 im B2B-Umfeld ist der Druckmaschinenhersteller Koenig & Bauer (Bild: KBA)
Ein gutes Beispiel für die sinnvolle Nutzung von IoT und Industrie 4.0 im B2B-Umfeld ist der Druckmaschinenhersteller Koenig & Bauer (Bild: KBA)

Konkret bedeutet das: Von den rund 7000 Maschinen, die derzeit weltweit im Einsatz sind, sendet inzwischen ein beträchtlicher Anteil Sensordaten “nach Hause”, und zwar bis zu 20.000 Datensätze täglich pro Maschine. Diese Daten nutzt das Unternehmen mehrfach. Meldet zum Beispiel der Bogenzähler einer Maschine bei einem Kunden, dass seit der letzten Wartung eine Viertelmillion Bögen ohne die notwendigen Wartungen durch das Druckereipersonal durchgelaufen sind, kann ein regionaler Servicetechniker von KBA sofort Kontakt aufnehmen und klären, ob die Wartungsarbeiten gegebenenfalls von ihm durchgeführt werden sollen.

Mehrwert durch Predictive Maintenance und Big Data-Analysen

Auf Basis der gesammelten Daten und entsprechender Analysen kann KBA jedoch noch weitere Leistungen anbieten. Falls die Auswertung beispielsweise ergibt, dass die Maschinenleistung eines Kunden wesentlich geringer ist als die einer baugleichen Maschine eines anderen Kunden mit ähnlicher Auftragsstruktur, ist dies ein guter Aufhänger für ein Beratungsgespräch, in dem ein Upgrade-Paket oder ein professionelles Training für die Mitarbeiter vor Ort angeboten werden können.

Darüber hinaus möchte KBA mithilfe intelligenter Analysemethoden auch bislang verborgene Informationen heben. Eine softwarebasierte Mustererkennung kann aus dem massenhaften Betriebsdatenvergleich automatisch Indikatoren herausfiltern, die auf eine bevorstehende Maschinenstörung hindeuten können. So wird es möglich, ungeplante Stillstandzeiten beim Kunden präventiv im Sinne von Predictive Maintenance zu minimieren.

Fazit

Egal ob im B2B- oder im B2C-Geschäft, Innovation ist kein Selbstzweck. Nur wenn digitale Angebote dem Kunden nachhaltig etwas bringen, werden Unternehmen damit dauerhaft erfolgreich sein. Basis dafür ist eine kundenzentrierte digitale Strategie, die auch den Bereich IoT umfasst und Unternehmen ermöglicht, sich durch echte Mehrwert-Services vom Wettbewerb abzuheben.