Smartification – die Uhr tickt für den deutschen Mittelstand

Sanduhr (Bild: Shutterstock)

Die Vernetzung von Produkten ist eine Herausforderung. Sie ist aber unabdingbar, um das eigene Portfolio zukunftssicher aufzustellen. Christian J. Pereira, Geschäftsführer der Kölner Q-loud Gmb, zeigt im Gastbeitrag für silicon.de auf, worauf es ankommt.

“Sie denken vielleicht, dass deutsche Unternehmen nicht früh genug digitalisiert haben. Aber das stimmt nicht. Die Deutschen waren Pioniere (…) wo sie Schwächen haben ist bei der horizontalen Vernetzung”, bringt es der Autor Christoph Keese über “Silicon Germany” auf den Punkt. Damit adressiert er treffsicher den Handlungsbedarf, insbesondere für den deutschen Mittelstand.

Die Vernetzung unserer Welt vollzieht sich rasant und mit zunehmender Geschwindigkeit. Von der intelligenten Heizung, über den sich selbst wartenden Aufzug bis hin zum autonomen Fahrzeug – alles was vernetzt werden kann, wird auch vernetzt (werden)! Ob die vieldiskutierte Zahl von 50 Milliarden vernetzten Geräten im Jahr 2020 nun wirklich erreicht wird oder nicht, ist dabei unerheblich sie verdeutlicht aber eindringlich, wohin die Reise kurz- und mittelfristig geht.

  Christian J. Pereira, der Autor dieses Gastbeitrags für silicon.de, ist Geschäftsführer der Kölner Q-loud GmbH (Bild: Q-loud)
Christian J. Pereira, der Autor dieses Gastbeitrags für silicon.de, ist Geschäftsführer der Kölner Q-loud GmbH (Bild: Q-loud)

Diesen Prozess hin zu sogenannten “smarten Produkten” nennen wir “Smartification”. Hierbei geht es um Produkte, die über die Vernetzung latente Bedarfe bei Kunden und Anwendern ansprechen, deutliche Mehrwerte bieten und damit oft konkurrenzlos neue Marktnischen besetzen oder Umsatzpotenziale heben.

Wie dramatisch der durch Vernetzung ausgelöste Umbruch sein wird, kann anschaulich an der Entwicklung der Informationstechnologie nachvollzogen werden. Jahrzehntelang hat sich innerhalb von 18 Monaten die Leistung von Computern verdoppelt und der Preis dabei halbiert. Das hat zu enormen Produktivitätssteigerungen geführt – aber eigentlich blieb alles beim Alten. Das Device war schneller und konnte mehr Aufgaben in kürzerer Zeit erfüllen – das war es aber dann auch.

Die wirkliche Veränderung trat erst mit der Vernetzung ein: E-Commerce, Facebook, Skype, Office aus der Cloud oder unbegrenzte Rechnerleistung von Amazon im Pay-per-Use-Modell sind sichtbare Zeichen für eine grundlegende Veränderung unserer Gesellschaft und Wirtschaft. Die Grundgesetze der Wirtschaft haben sich verändert und damit auch die Machtverhältnisse.

Dieses Verständnis breitet sich mittlerweile immer stärker in Deutschland aus. Auch deutsche Unternehmen setzen auf die Digitalisierung und Vernetzung, gilt es doch, nicht den Anschluss und damit langfristig an Bedeutung zu verlieren. Sehr häufig fängt der Prozess in der Unternehmensführung an: “Wir müssen ins Internet der Dinge und das schnell” ist die Parole. Und dann soll alles besser gestern als heute passieren. Aber woran soll man sich orientieren, wo gibt es erfolgreiche Beispiele, von denen gerade der deutsche Mittelstand lernen könnte? Denn mit der tieferen Analyse der Aufgabenstellung werden auch die Hürden transparent, die es zu überwinden gilt.

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IoT: Eine neue Standard-Welt entsteht

Im Bereich IoT gibt es zahlreiche Initiativen und Konsortien, bislang laufen diese Bestrebungen jedoch überwiegend parallel nebeneinander her. Doch damit dies alles überhaupt funktionieren kann, braucht man neben neuen Produkten auch neue Standards – insbesondere für die Kommunikation der Geräte untereinander und für die Sicherheit. silicon.de gibt einen Überblick.

Beispielsweise werden neue Qualifikationen benötigt: Hard- und Softwareentwicklung, Mobilfunkintegration in die Produktion und Produkte oder ein 24/7-Betrieb bei maximaler Verfügbarkeit, denn Ausfälle und Wartungsfenster beeinflussen die Produktfunktionalität und sind somit auszuschließen. Das sind nur einige der zahlreichen neuen Aufgabenstellungen. Schnell wird dann auch klar, dass man als Anbieter in einem vernetzten System mit Benutzer-Portal, mobilen Apps, Gerätemanagement und Echtzeit-Abrechnung der Smart Products per Definition zum Cloud Betreiber wird.

Die heute gerade im Mittelstand noch gängige Frage nach “Cloud oder nicht Cloud” stellt sich bei Smart Products nicht mehr. Eigentlich bleibt nur die Frage offen, in welchem Modell – privat, öffentlich oder hybrid – die Cloud, das Herzstück der zentralen Vernetzung, betrieben wird. Nicht zuletzt sind diese Systeme auch komplexen Angriffsszenarien ausgesetzt, womit das Thema Security zum Top-Thema wird. Dies wiegt umso schwerer, als die Vernetzung und Öffnung für Ökosysteme programmatisches Ziel smarter Produkte ist und die früher verfolgte “Security durch Abschottung” dementsprechend nicht mehr das Mittel der Wahl sein darf.

Was zeichnet erfolgreiche Mittelständler aus?

Dies kann exemplarisch am Beispiel eines Marktführers im Bereich (Garagen-) Torantriebe dargestellt werden. Dieser startete ein Innovationsprojekt mit dem Ziel, seine Produkte zentral zu vernetzen. Im ersten Schritt sollte das ohne weitreichende Änderungen des Produkts und der internen Prozesse erfolgen und ein Mehrwert für den Kunden geschaffen werden. Mehrwert war hier, die Garagentore per App sicher zu steuern und die Steuerungsrechte der Tore ganz oder zeitweise (digital) zu übertragen. Das Ergebnis: Die physische Limitation des “Schlüssels” wurde aufgehoben. Die vernetzte Steuerung wird zudem als kostengünstige “Nachrüstbox” für nahezu alle Bestandsanlagen vertrieben.

Weg in die Cloud (Bild: Shutterstock)
Die Frage “Cloud oder nicht Cloud” stellt sich bei Smart Products nicht mehr.(Bild: Shutterstock)

Nach erfolgreicher Produkteinführung wurde im zweiten Schritt die Vernetzung zum Standard für alle neuen Produkte, also direkt in die Produktlinien integriert. Mit der zunehmenden Verbreitung der Nachrüstboxen und der neu verkauften Produkte weiß der Hersteller heute, wie seine Produkte genutzt werden, welche Anlagen vorausschauend gewartet werden sollen und welches Optimierungspotenzial besteht. Hiermit ist er in der Lage, sein Geschäftsmodell um Serviceleistungen zu erweitern.

Im nächsten Schritt wird über die Prozessintegration nachgedacht. Nur zu wissen, dass eine Wartung an einer Anlage erforderlich ist, ist ja nicht genug. Es gilt, diesen Impuls im Prozess zu verwenden: Welche Bauteile sind betroffen, wie sehen die Touren der Servicetechniker aus und was sind die Rechnungsanschriften der Kunden – hier hilft jetzt die Verknüpfung von IoT mit der SAP-Welt, wo diese Prozessinformationen bereits hinterlegt sind.

Partnerschaften sind Trumpf – gerade bei Security

Für die hochkomplexen Bereiche Betrieb der Cloud und Security ist selbstkritisch zu prüfen, ob dies intern abgedeckt werden kann. Im Zweifel werden diese Aufgaben an einen qualifizierten Partner outgesourct. Wie wichtig hier tragfähige Umsetzungen sind, hat der kürzlich erfolgte DDoS-Angriff (Distributed Denial of Service) mithilfe eines Botnetzes aus smarten Geräten eindrucksvoll untermauert.

HR und Cloud (Bild: Shutterstock)
Nach der grundsätzlichen Vernetzung der smarten Geräte gilt es über die Prozessintegration nachzudenken (Bild: Shutterstock)

Im oben erwähnten Fallbeispiel wurde die Produktentwicklung partnerschaftlich mit einem Dienstleister innerhalb von sechs Monaten realisiert. Dieser brachte insbesondere Security Know-how und Betriebserfahrung im IoT-Bereich in die Entwicklung ein. Das Unternehmen selbst konzentrierte sich auf seine Kernkompetenzen, also etwa der Frage, welche Messpunkte in welcher Frequenz relevant sind, der Integration in die bestehende Gerätewelt, sowie die Usability, also Kundenerwartung und -erfahrung. Zusätzlich zum Know-how via Partner vermied diese Herangehensweise eine zu hohe Fertigungstiefe (Komplexität), reduzierte den Kapitalbedarf und sparte weitere Umsetzungszeit ein.

Agiles Verhalten und Lernkurven zulassen

Wie das Beispiel zeigt, setzen erfolgreiche Mittelständler bewusst auf einen unkomplizierten Start und hemmen sich nicht durch die Suche nach dem perfekten, digitalen Geschäftsmodell oder eine unrealistische Erwartung an den Umsatzbeitrag. Die Champions gehen davon aus, dass Tempo und Erfahrung zählen und in der Regel noch weitere Optimierungsschleifen erfolgen. Was nun aber, wenn die initiale Idee fehlt und konkrete Kundenvorteile noch nicht klar ersichtlich sind?

Zusammenarbeit der Novoferm GmbH und der Q-loud GmbH (Grafik:L Q-loud)
Die Zusammenarbeit der Novoferm GmbH und der Q-loud GmbH ermöglichte eine kurze Entwicklungszeit und gestattete dem Hersteller der Torantriebe die Konzentration auf seine Kernkompetenzen, während die Q-loud GmbH ihr Security Know-how und die Betriebserfahrung im IoT-Bereich einbrachte (Grafik: Q-loud)

Dann setzen die Verantwortlichen oft auf Stakeholder im Unternehmen wie Produktmanagement oder Qualitätssicherung. Hier können erste Erfahrungen sofort zur Steigerung von Produktqualität oder -akzeptanz genutzt und ein Wertbeitrag generiert werden. Auch hier heiligt der schnelle Start die Mittel. Denn die wirklichen Potenziale der Smartification erschließen sich oftmals erst im Laufe der Zeit. Der Mittelstand gibt sich mit dem schrittweisen Vorgehen die notwendige Zeit und integriert parallel den Wissensaufbau zügig in die Produktstrategie und die Kernprozesse des Unternehmens.

Retrofit – auf die schnelle Verbreitung kommt es an

Oft starten Unternehmen mit der Ausrüstung „neuer“ Produkte, manchmal sogar nur im Premium-Segment. Es empfiehlt sich jedoch, mit günstigen Nachrüstsätzen für Bestandssysteme (Retrofit) zu starten, um so eine schnelle Verbreitung zu erreichen und den Lerneffekt zu maximieren.

Retrofit bezeichnet klassisch die Aufrüstung von bereits im Betrieb befindlichen Maschinen, so dass diese mit neuen Funktionalitäten genutzt werden können. Gerade bei der Einführung smarter Produkte bietet dieser Gedanke einen attraktiven Ansatz. So kann eine zentrale Vernetzung bei der installierten Basis häufig durch den Einsatz von “Erweiterungsboxen” erreicht werden.

AEG Radio (Bild: Peter Marwan/Aufnahme im Radio- ja Puhelinmuseo Petäjävesi)
“Retrofit” trägt der Tatsache Rechnung, dass eigentlich alles durch Nachrüstung vernetzt werden kann und die installierte Basis meist größer ist, als der Abverkauf von neuen Geräten (Bild: Peter Marwan/Aufnahme im Radio- ja Puhelinmuseo Petäjävesi).

Diese werden über Schnittstellen oder direkt mit dem Bestandsprodukt verbunden und beinhalten etwa Prozessorleistung und Security (Verschlüsselung). Retrofit ist in der Regel deutlich kostengünstiger als der Ersatz des bestehenden Produkts oder eine Neuanschaffung, was eine deutlich schnellere Verbreitung von Innovationen ermöglicht.

Und es kann nicht deutlich genug darauf hingewiesen werden: Wirkliche Lerneffekte und Potenziale zur Weiterentwicklung der Produkte und der Kundenbeziehungen erschließen sich erst mit der Anwendung und Verbreitung der vernetzten Produkte. Es müssen genügend Daten gesammelt werden, um statistisch relevant zu sein. Auf die Abverkäufe hochpreisiger Neuprodukte zu warten und so nur wenige vernetzte Produkte im Feld zu haben, limitiert das “Big-Data-Potenzial”. Champions setzen nicht nur auf eine schnelle Einführung sondern auch auf eine schnelle Verbreitung.

Wo liegen die größten Gefahren?

Wer sich einmal auf dem Weg befindet, dem kann ernsthaft – außer Security-Problemen – nur wenig passieren. Im schlimmsten Fall wird das smarte Produkt ein Flop, bedeutungslos und schnell vergessen. Gewiss ein unternehmerisches Risiko, aber eines, das verglichen mit der Alternative, also dem Verzicht auf die zügige Smartification, weitaus geringer einzuschätzen ist. Der durch Digitalisierung und Vernetzung geförderte Wettbewerb ist gnadenlos, Zeit wird zum kritischen Erfolgsfaktor und die Unternehmen werden Wege finden müssen, dem immensen Preisdruck – mehrere Preissenkungen pro Jahr oder ein Rutsch im zweistelligen Prozentbereich sind keine Seltenheit – Stand zu halten. Wie gesagt, die Grundgesetze der Wirtschaft haben sich geändert, darauf gilt es sich einzustellen.

Checkliste: Smartification

  1. Starten statt warten – Tempo hat maximale Bedeutung
  2. Lernkurven einplanen und integrieren – “agile learning”
  3. Kompetenzlücken mit Partnerschaften überbrücken
  4. Retrofit für schnelle Verbreitung
  5. Security der Produkte ist von zentraler Bedeutung – immer!

Über den Autor

Christian J. Pereira, der Autor dieses Gastbeitrags für silicon.de, ist Geschäftsführer der Kölner Q-loud GmbH (Bild: Q-loud)

Christian J. Pereira ist Geschäftsführer der Q-loud GmbH, einem Full-Stack IoT-Anbieter und Tochterunternehmen der QSC AG. Der studierte Maschinenbauer und Informationswissenschaftler (Dipl.-Ing., Dipl.-Inf.wiss.) verfügt über mehr als 25 Jahre Erfahrung in der Telekommunikationsindustrie. Er war Mitgründer eines Beratungsunternehmens für die Deutsche Telekom-Gruppe und eines Cloud-Unternehmens für die dtms AG. Zuletzt war er Mitgründer der neuland GmbH & Co. KG, einem auf die digitale Transformation spezialisiertem Beratungsunternehmen.