Deutsche Virtualitäten

Man kommt doch immer wieder ins Grübeln, wenn einer einem was schenkt.

Zwar weiß man aus der Apostelgeschichte (Kapitel 20, Vers 35): “Geben ist seliger als nehmen.” Meist aber gibt in einer Zeit, der es an Nächstenliebe doch etwas gebricht, ein anderes Motiv den Ausschlag: Geben ist oft auch lohnender.

IT-Firmen sind deswegen besonders freigiebig, wenn’s um Zukunftsmärkte geht. So war’s bei den Browsern, den Multimedia-Playern und den Suchprogrammen.

Und jetzt verschenken die Unternehmen Virtualisierungs-Software: EMC gibt seit ein paar Tagen VMware und Microsoft seinen Virtual-PC gratis ab. Ein untrügliches Indiz: Virtualisierung liegt im Trend.

Es ist aber auch eine feine Sache, wenn etwas nicht ist und trotzdem wirkt. Dem ITler erspart das, sich in die Niederungen der unteren Layer zu begeben, die meist vollgestellt mit sperriger Hardware sind und wo man sich in Kabeln verheddern kann.

Oft genügt ja ein Blick unter den eigenen Schreibtisch, um sich davon zu überzeugen, was für einen Verhau nicht-virtualisierte IT doch für gewöhnlich bildet. Die sind meist sehr hässlich anzuschauen, die unteren Layer unterm Schreibtisch.

Deswegen wird virtualisiert. Das ist praktischer, billiger und schöner. Und dieser Trend hat mittlerweile sogar ganze Konzerne erfasst. Die IBM etwa, die vor 50 Jahren die Festplatte und vor 25 den PC erfunden hat. Sie hat es aufgegeben, solche Devices zu produzieren. Gleichwohl verdient sie daran, denn in jedem steckt ihre Technik, was immer auch auf dem Label stehen mag.

TCS – Technology Collaboration Solutions – nennt IBM ihre Strategie, Technologie zu vermarkten, ohne sich in Reinräumen die Finger schmutzig zu machen. Auf den höheren logischen Layern geht’s halt sprachlich immer etwas phantasievoller zu. Trotzdem wird deutlich: Der einst weltgrößte Computer-Bauer schickt sich an, der erste virtuelle Technologie-Konzern zu werden.

Hiesige Unternehmen tun sich da schwerer. Auch in Deutschland gab’s ja mal einen High-Tech-Konzern mit allem, was dazu gehört – mit eigener Chip-Entwicklung, einer IT-Division und einer Netzwerksparte: Nachdem der Konzern die Pionierfirmen Nixdorf AG und Zuse KG aufgekauft hatte, war Siemens gleichbedeutend mit der deutschen Computerindustrie.

Inzwischen hat der Konzern die Hälfte seines IT- und seines Telekommunikationsgeschäfts an japanische und finnische Unternehmen abgeben. Die beherrschen’s besser. Seine Halbleiter-Sparte hat er blauäugigen Kleinaktionären angedreht und die Handy-Produktion an Taiwanesen verschenkt.

Mit dem Slogan “Information meets communication”, hat einst Deutschlands führende High-Tech-Schmiede geworben. So halten’s die beiden wohl immer noch, allerdings außerhalb von Siemens: Der Konzern sieht künftig seine Kernkompetenz in der Produktion von Lampen und Lokomotiven. IBM virtualisiert sich. Siemens geht off-line.

Wobei: An Virtualität mangelt’s ja auch hierzulande nicht. Fast alle modernen Volkshelden sind rein virtuell deutsch.

Franz Beckenbauer etwa, Weltmeister, Kaiser und Präsident von Bayern München, hält’s meldetechnisch weder mit München, noch mit dem Rest Bayerns. Er hat seinen Wohnsitz in Österreich.

“Schumi wird heimatlos” titelte der Nachrichtensender N24 vor zwei Jahren, als die Stadt Kerpen mitteilte, der Ortteil Kerpen-Manheim, in dem der Formel-1-Weltmeister Michael Schumacher aufgewachsen ist, müsse dem Braunkohle-Tagebau weichen. Da war jener allerdings schon längst nach Vufflens-le-Chateau in der Schweiz umgezogen.

Und: “Ich werde Deutschland die Treue halten”, erklärte Boris Becker, als er 2003 im Kanton Zug seinen Wohnsitz nahm. Regelmäßige Zahlungen ans Finanzamt schloss dieses Versprechen allerdings nicht ein.

Nur Jürgen Klinsmann lässt sich nicht virtualisieren. Der zahlt zwar auch im Ausland Steuern, in Kalifornien. Aber, dass er ein Schwabe ist, das ist hard-coded. Man hört’s einfach. Virtuelle Schwaben gibt’s nicht.

Und auch die deutschen Politiker sind leider ganz real. Volker Kauder beispielsweise, der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Der hat sich was Neues einfallen lassen zum Thema: was man alles von Einbürgerungskandidaten wollen kann.

Meinte sein Parteifreund noch, die Günther-Jauch-Emulation Roland Koch, man sollte von einem Bewerber für die deutsche Staatsbürgerschaft schon verlangen, dass er sämtliche Bilder von Caspar David Friedrich kennt, so erklärt Kauder, zur Integration gehöre es, sich zur “deutschen Schicksalsgemeinschaft” zu bekennen. Angesichts dessen erscheint dann doch wieder die Forderung nach verbindlichen Sprachtests sehr vernünftig – für Politiker, versteht sich.

Ja, an manchen Leuten aus Südwest-Deutschland, da gehen auch ansonsten ubiquitäre Trends spurlos vorbei. Zumindest das, was der Kauder “rausschwätzt”, wie man bei ihm daheim sagen würde, das ist nicht virtuell, sondern ganz realer Unsinn.