Ein aktueller Klassiker

Selten zuvor ist ein Jubiläum aus der Literaturgeschichte mit so großem Aufwand begangen worden. George Orwell wäre letzte Woche 100 geworden. Schon Wochen und Monate zuvor waren ja die Zeitungen voll davon.

Schon Wochen und Monate zuvor waren ja die Zeitungen voll davon. Jetzt immer noch. Und so wird’s wohl auch weitergehen. Die begnadetsten Schreiber haben die Aktualität von Orwells “1984” wortgewaltig unter Beweis gestellt. Nein, nicht die paar blutarmen Feuilletonisten, die anstatt über eine Wagner-Inszenierung sich da halt über einen Schriftsteller ausbreiten mussten, der vor dem Überwachungsstaat gewarnt hat. Es waren vielmehr richtig wichtige Autoren. Solche, die einem das Blut in den Adern gerinnen lassen, wenn sie ihre Lieblings-Horrorszenarien ausmalen. Autoren von Gesetzesentwürfen, ministeriellen An- und Rechtsverordnungen.

Im Feuilleton steht sowas nicht. Die wirklichen Würdigungen von George Orwell stehen im Politik-Teil. Tagtäglich. Allerdings meist nur als Einspalter, weil sich eigentlich niemand mehr darüber aufregt. Was will man auch erwarten in einer Zeit, in der die meisten bei “Big Brother” an eine TV-Peep-Show denken.
Einer von jenen, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht haben, den Realitätsbezug von George Orwells Roman en détail nachzuweisen, ist Günther Beckstein. Gegenwärtig ist er Innenminister in Bayern. Er formuliert schon seit langem an einem neuen Polizeiaufgabengesetz herum. Weil: Das alte erlaubt vieles nicht, was er ausprobiert und ihm sehr gut gefallen hat.

Am Grenzübergang Schirnding beispielsweise hat er testweise ein halbes Jahr lang die Nummerschilder aller vorbeifahrenden Autos scannen lassen. Ein Innenminister halt, der sich dafür interessiert, was seine Bürger so machen! Sowas hat Tradition in Bayern. Günther is watching you. Oder eben: “Tradition und High-Tech”, wie’s der Ministerpräsident gerne formuliert. Und Beckstein ist diesbezüglich quasi dessen oberster Vollstrecker.

Um auf sowas zu kommen, muss man übrigens nicht in Bayern und der hiesigen Staatspartei zuhause sein. Auch der “Rote Ken” (Livingstone), der Londoner Oberbürgermeister, hat die Seinen gerne im Blick. Geholfen hat ihm dabei eine grüne Idee: das ‘Congestion Charging’, eine City-Maut, deren Aufkommen in den Ausbau des öffentlichen Verkehrsystems fließt. Eine Idee, die nun wirklich sehr sympathisch klingt.

Für das Congestion Charging nun sind zwischen Hide Park und Tower Bridge über 800 Kameras flächendeckend installiert worden. Die nehmen Nummernschilder auf – mehrfach. Und dann werden die gescannten Kennzeichen mit denjenigen der Fahrzeuge verglichen, für die Maut bezahlt worden ist. Und mit etlichen anderen Listen (der Sicherheitsbehörden) mehr. Aber diese Zweitverwertung hat Livingstone Anfangs beharrlich bestritten und sie erst eingeräumt, als es ihm nach dem 11. September 2001 opportun erschien. Ist doch wirklich nicht schlecht für einen Roten!

Aber Beckstein ist natürlich besser. Nur der greift nämlich sämtliche IT-Trends im Dienste seines Großen Bruders auf: Imaging in Schirnding, den Trend zu Vernetzung im “Gesetzesentwurf zur gefahrenabwehrenden Telekommunikationsüberwachung”. Für Herbst ist der geplant. Rein soll, dass nicht nur zur Strafverfolgung und bei konkretem Tatverdacht abgehört werden darf, sondern auch mal eben so. Nach dem Motto des großen bayerischen Staatsphilosophen Franz Beckenbauer: “Schau’ mer mal, nachher seh’ mer scho.”

Selbstverständlich weiß Beckstein auch, dass die Zukunft den Life Sciences gehört. Der genetische Fingerabdruck soll deshalb künftig obligatorisch jedem abgenommen werden, der sich hat erwischen lassen – mehr oder weniger egal bei was. Und wenn man die DNA schon mal hat, dann braucht man sich eigentlich nicht darauf zu beschränken, ihren Eigentümer ausfindig zu machen. Sondern könnte sie schließlich auch untersuchen. Und dann wüsste man mehr über die betreffende Person als jene selbst.

Das hätte sich George Orwell nicht träumen lassen – mit seinem putzigen Televisor. Laptop, Lederhose und Beckstein gab’s halt nicht in seinem technologisch rückständigen Ozeanien. Braucht man aber eigentlich auch nicht, um Orwell zu beweisen. Das zeigt ja ganz vortrefflich Ronald Barnabas Schill, der Hamburger Innensenator. Der hat’s ja nicht so mit der High-Tech. Wie er überhaupt eher die schlichteren Gemüter anspricht.

“Rechtstaatliche Offensive” heißt seine Partei, was in etwa so schlüssig klingt wie demokratische Attacke oder liberaler Angriff. Deswegen nennt man sie ja meist auch Schill-Partei, womit eigentlich auch alles über ihr Programm ausgesagt ist.

Ronald Barnabas Schill nun hat die Hamburger SPD abhören lassen, weil die angeblich von illegalen Tricksereien in seiner Innenbehörde gewusst hat. Jemand müsse da wohl Dienstgeheimnisse verraten haben, und deswegen sei die Aktion berechtigt. Allerdings fallen in einem Rechtsstaat – sei es ein offensiver oder ein defensiver – illegale Tricksereien nicht unter das Dienstgeheimnis.

Offenkundig gerät da doch häufig einiges durcheinander. Denn eigentlich sollten ja die Bürger die Staatsorgane kontrollieren. Wenn die Kontrolle hingegen vor allem in umgekehrter Richtung stattfindet, dann ist was faul. Die Kontrolleure aber werden ganz offenkundig nicht richtig kontrolliert. Jedenfalls konnte auch bei der Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht über den großen Lauschangriff diese Woche niemand sagen, wie oft es sowas überhaupt gibt.

Orwells Roman ist ja mittlerweile über ein halbes Jahrhundert alt. Es ist erstaunlich, wie lange sich Aktualität halten kann.