Der IT-Imperativ

Bei bestimmten Sprachmustern etwa. Beispielsweise beim als Aufforderung gemeinten erweiterten Infinitiv in der Headline.

Bei bestimmten Sprachmustern etwa. Beispielsweise beim als Aufforderung gemeinten erweiterten Infinitiv in der Headline. Dem sozialistischen Imperativ. Also bei Konstrukten wie: “Die Ziele des 11. Parteitags durchsetzen!” oder: “Den Sozialismus mit aller Kraft aufbauen!”
Im Osten haben sie früher bei offiziellen Anlässen so geredet. Und die Zeitungen haben so geschrieben.

Die im Osten waren damals die Bösen. Totalitarismus hieß das Wort, das Politologen eigens für ihr System erfunden hatten. Theoretisch ist Totalitarismus etwas ganz Kompliziertes. Praktisch ist’s eine Mischung aus Agitprop, Kollektivismus, Kadern sowie omnipräsenten Parolen und Transparenten.

Also eine sehr unästhetische Melange. Obwohl dabei ja gerade junge, schöne Menschen eine tragende Rolle spielen.

Die Mao-Mädchen etwa. Die haben zur Zeit des Großen Vorsitzenden in der Peking-Oper, umweht von roten Fahnen, zwischen zwei Pirouetten den Klassenfeind niedergemäht. Oder sie haben auf den Gemälden des sozialistischen Realismus mit leuchtenden Augen zum Großen Bootsmann aufgeblickt. Ansonsten haben sie Flugblätter verteilt.

Auch bei der Systems – die ist nicht-totalitär und unterscheidet sich darüber hinaus schon rein sprachlich durch das “s” am Ende – auch da verteilen Mädels wieder Flugschriften. Aber weil ihnen wahrscheinlich die Agitprop darauf egal ist – die werden schließlich für’s Verteilen und nicht für’s Glauben bezahlt, deswegen können sie sehr viel professioneller lächeln.

Auch ein Meer von Transparenten ist bei solchen Massenveranstaltungen immer zu sehen. Darauf wiederum: Bilder von schönen, jungen Menschen, allerdings nicht mit irgendwelchen Legacy-Tools wie Hammer, Zirkel und Sichel, sondern mit modernen Gadgets und – Parolen. Wobei – allein, um in kein falsches Licht zu geraten – man sich nur ungern entscheidet, welche Slogans man als hohler empfindet: “1.Mai – Internationaler Kampftag der Arbeiterklasse” oder “O2 can do”.

Sprachlich hat sich da seitdem kaum etwas getan. Nur die TLAs (Three Letter Acronyms), mit denen versucht wird, verquaste Begriffe aussprechbar zu machen, die sind zahlreicher geworden. Der reale Sozialismus kam mit wenigen Dutzend aus: LPG, VEB, FDJ, MfS… Die IT hat da deutlich mehr zu bieten.

Kollektive gibt es heute ebenfalls nicht mehr. Die heißen jetzt nämlich Teams. In diesen Arbeitsbrigaden US-amerikanischer Prägung geht der Einzelne allerdings mindestens genau so gesichtslos auf und unter wie zur Zeit der Gruppenbildung unter der ideologischen Hegemonie der Sowjetunion.

Parolen – die eh keiner glaubt – wurden früher im Osten von Bezirkssekretären im Rahmen kämpferischer Reden vorgetragen. Heute wählt man dafür die geschmeidigere Form des Kommentars Seitens eines Vice-President in Pressemitteilungen.

Jene sind im Umfeld von Messen mindestens genauso unvermeidlich wie seinerzeit die Reden zum internationalen Kampftag der Arbeiterklasse. Was ihre Inhaltsschwere anbelangt, gibt es ebenfalls Parallelen. Der Vice-President ist quasi die moderne Variante des Bezirkssekretärs.

Aber die Vice-Presidents sind sehr viel erfolgreicher. Zwar unterscheiden sich die Parolen – damals und heute – nicht durch den Grad ihrer Penetranz, sehr wohl aber durch ihre Penetrationsrate. Nur 0,2 Sekunden benötigt Google-News, um 2650 Meldungen zum Thema “customer-satisfaction” aufzulisten. Auf Deutsch: “Kundenzufriedenheit”. – Wird auch sehr gerne genommen.

Customer-satisfaction ist dem Vice-President, was weiland dem Bezirkssekretär die Völkerfreundschaft war. Nur die Parole mit dem Customer performt halt sehr viel besser.

“Aber die Presse – in dem Fall die Fachpresse – …”, möchte man da doch gerne einwenden können. (Die Fachpresse ist jene Institution, die kaum ein authentisches Zitat publiziert, sondern statt dessen meist nur Sätze, die von Pressestellen geglättet wurden. Pressestellen sind heute für die Agitprop zuständig.)

Also der Blick in die Presse: Customer-satisfaction ist da, wie von Google aufgezeigt, eine Parole, die vielfach aufgegriffen wird. Und dann findet man noch im Vorfeld der Systems Überschriften wie diese: “Google vom Suchmaschinen-Spam befreien” (Testticker). “Handy-Daten synchronisieren mit dem Directories Addressbook” (Newsbyte).  Oder – schon ein paar Wochen älter, aber dafür umso eindeutiger: “Die besten Nachwuchskräfte gewinnen” (Computerwoche).

Da zuckt man halt doch etwas zusammen. Gut, das können auch nur holprige Formulierungen sein. Soll ja vorkommen in der Hektik des Geschäfts. Aber man ist doch verunsichert.

Und wenn man verunsichert ist, dann sucht man nach Halt und schlägt man in der Heiligen Schrift nach – wo man natürlich nichts zu Customer-satisfaction und zum sozialistischen Imperativ findet. Aber das: “Wahrhaftig, du bist auch einer von denen, denn deine Sprache verrät dich”(Mathäus, Kapitel 26, Vers 73). – Ein doch sehr ungeschmeidig formulierter Satz.