Der ideale Joe

Von anderen Menschen spricht der Mensch gerne im Singular. Und jenen Singularen gibt er dann Namen, wie er sie auch selbst tragen könnte.

So erblickte dereinst der deutsche Michel das Licht der Welt, der Iwan und Otto Normalverbraucher. Ein Kind der Informationsgesellschaft wiederum ist Erika Mustermann, das bislang facettenreichste jener idealtypischen Wesen.

Zuerst besaß sie ja nur einen maschinenlesbaren Personalausweis. Inzwischen aber sind Videoaufnahmen von ihr beim Lidl, ihre Bankverbindung in diversen Callcentern, ihr Konsumentenprofil bei Payback, ihre Handy-Nummer beim berühmten Erotik-Unternehmer aus Rheinland-Pfalz und ihre Telekommunikationsverbindungsdaten beim Schäuble.

Erika Mustermann ist eine Frau mit vielen Eigenschaften. Die braucht sie, weil Unternehmen, Polizei und Gauner viel über sie speichern wollen. Das müssen die, um ihre Arbeit machen zu können.

Aber Erika schafft es nicht mehr alleine angesichts der vielbeschworenen Globalisierung der Wirtschaft, die jetzt ja tatsächlich einmal manifest geworden ist – in Form der weltweiten Finanzkrise. Ein neuer Typ des Idealtyps muss also her.

Universell einsetzbar sollte er sein und über jede nur erdenkliche Eigenschaft verfügen, also auch über gegensätzliche. Kurz: Es muss ein Typ sein, den man sich am besten dialektisch denkt. – Es gibt ihn: Er heißt Joe.

Im US-Wahlkampf ist ein Joe omnipräsent. Geboren wurde er als Joseph Wurzelbacher. Inzwischen aber wurde er zu Joe, the Plumber, der Klempner, überhöht. Er ist das Sinnbild des Durchschnittsbürgers, der berühmte Mann auf der Straße.

Auf jener sprach er den demokratischen Präsidentschaftsbewerber Barack Obama an und beschuldigte ihn, seine – Josephs – Steuern erhöhen zu wollen, was ein schwerer Vorwurf ist. Denn der Durchschnittsbürger – Joe, der Klempner – ist wahlentscheidend.

Obama will auch wirklich die Steuern erhöhen, und zwar für alle mit einem Einkommen über 250.000 Dollar. Davon fühlt Joe – der Wurzelbacher – sich betroffen. Denn soviel möchte er auch einmal verdienen. Aktuell allerdings hat er gerade mal 40.000 Dollar und würde demnach von Obamas Steuersenkungen für Gering- und Normalverdiener profitieren.

So ist er halt, der idealtypische Joe – der Klempner. Er macht sich gern zum Deppen für andere. Aber das ist nur eine Seite von ihm.

Auch in Europa gibt es einen berühmten Joe. So rufen ihn seine Freunde. Hier allerdings wird er aus rein stilistischen Gründen so genannt. – Joe, der Ackermann. Er übt aber – anders als sein Name vermuten lässt – nicht den ehrbaren Beruf des Landwirts aus, sondern ist Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank und ansonsten noch Schweizer Staatsbürger. Dieser Joe ist im Unterschied zu seinem amerikanischen Namensvetter einer, der gerne andere für dumm verkauft.

So richtig bekannt geworden ist er, als er sich während des Mannesmann-Prozesses vor Gericht ungebührlich aufführte. Und zum Wochenende klagte er im Interview mit der BamS (Bild am Sonntag): “Mir wird langsam Angst um dieses Land”, weil die Linkspartei einen kauzigen ehemaligen Tatortkommissar als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten nominiert hat.

Normalerweise springt dieses Blatt ja anders mit gerichtsnotorischen Ausländern um, die sich nicht zu benehmen wissen und dann noch an Deutschland herummäkeln. Aber Joe, den Ackermann, behandelte die BamS sehr ehrerbietig und gab ihm eher Stichworte, als dass sie Fragen stellte.

Und so konnte der denn ausgiebig sein “ganz persönliches Zeichen der Solidarität” loben: In einem Geschäftsjahr, in dem die Bankenbranche nun wahrlich keinerlei Erfolge verzeichnet, verzichtet er, der Vorstandsvorsitzende der größten deutschen Bank, auf seine Boni (deutsch: Erfolgsprämien).

Angesichts einer solch großen Geste wäre es natürlich kleinlich gewesen, zu fragen, ob sein großmütiger Verzicht überhaupt finanziell zu Buche schlägt. Beziehungsweise, wenn ja, um was für seltsame Erfolge es sich dann eigentlich handelt, die auf der Chefetage so prämiert werden.

Wie seinerzeit vor Gericht führte er anschließend noch aus, dass diese ganzen Staatsdiener, Richter und Ministerialbeamte, selbstverständlich keine Ahnung davon haben, wie hart Leistungsträger wie er arbeiten. “Arbeiten die Besten für 500.000 Euro?” soufflierte die BamS. Sowas wäre Joe, dem Ackermann, natürlich nicht zuzumuten: “Nein. Die Besten bekommen Sie dafür nicht.”

Man könnte da natürlich einwenden, dass es vielleicht besser gewesen wäre, diese Besten nicht bekommen zu haben. Allerdings das würde einen dann doch zu sehr in die Nähe jenes politisch ambitionierten Tatortkommissars rücken.

Aber so ist er, der Joe als solcher: dummdreist! Nein, Joe, der Ackermann, ist selbstverständlich alles andere als dumm. Und Joe, der Klempner, das Sinnbild des Durchschnittsbürgers, ist alles andere als dreist.

Allerdings nimmt man den neuen Idealtyp, den’s ja braucht, quasi die dialektische Einheit von Joe, dem Klempner, und Joe, dem Ackermann, dann lässt sich doch sagen: Wäre die eine Seite ein bisschen klüger, dann könnte die andere nicht gar so dreist sein.