Wenn das ERP-System am Anwender vorbeirauscht

“Alles-in-einem-Systeme bemühen sich oft, durch vorkonfigurierte Systemlösungen ihre Schwerfälligkeit und Komplexität zu kaschieren.” Dieser Ansicht ist Dr. Christian Riethmüller, Chef des Beratungshauses CERPOS. “Dabei werden die Anwender vergessen.” Das eigentliche Ziel der Unternehmen, sich durch die Sorge um die IT endlich den eigenen Kernkompetenzen zuwenden zu können, ist damit natürlich nicht genügend abgedeckt, kritisiert der Berater im Interview mit silicon.de.

silicon.de: Also überfordert man die Organisation, wenn man Funktionen anwendet oder gar kreiert, die für Mitarbeiter unkontrollierbar erscheinen?

Riethmüller: Einfachheit und Fehlertoleranz mit mindestens einem unterstützenden Korrekturmechanismus sind gefragt. Der Mitarbeiter darf nicht verzweifeln, weil er seine Funktionen nicht durchbringt oder weil Fehlermeldungen hochpoppen, die er nicht interpretieren kann. Häufig sind diese Fehler nur durch einen fernab vom eigenen Firmensitz sitzenden IT-Mitarbeiter behebbar, der ausgerechnet in der Spät-, Nacht- oder Wochenendschicht nicht verfügbar ist. Stillstand in der Bedienung eines ERP-Systems ist jedoch der Beginn der Krise. Plötzlich regiert die Zettelablage wieder, der Mitarbeiter muss alles aufnotieren, nur damit nichts verloren geht. Die Ursache liegt oft auch darin, dass das Unternehmen ein ERP-System der Organisation, den Mitarbeitern aufgedrückt hat, das vielleicht als Prestigesystem ausgewählt wurde, aber häufig einfach nicht das Richtige ist.

silicon.de: Im Ernst? Woran machen sie das denn fest?

Riethmüller: Mit Sicherheit! Warum haben wohl gerade große Unternehmen, wie zum Beispiel die Automobilisten, sehr oft zu Recht in der Zentrale ein “Großsystem” und nicht auch flächendeckend in den angeschlossenen Zulieferfirmen dasselbe System installiert? Wie kommt es wohl, dass dort für deren Kernkompetenzen in Instandhaltung, Oberflächenbeschichtung, Produktion, Service, Werkzeugmaschinenbau Systeme wie ams-erp, avista ERP, Infor.COM, MediaSoft, PSIPENTA und andere im Einsatz sind?

silicon.de: Wir sind gespannt, Herr Riethmüller.

Riethmüller: Ganz einfach: Diese Zulieferfirmen verfügen über eine Kernkompetenz, die zu dieser Kernkompetenz passende Systeme einsetzen. Und sie tun gut daran. Das System ist doch kein Selbstzweck.

silicon.de: Heißt das im Umkehrschluss, dass Anwender sich viel zu oft – aus unterschiedlichen Gründen – ein ungeeignetes System aufschwatzen lassen?

Riethmüller: Sarkastisch könnte man antworten: Jeder Betrieb und jede Organisation hat das ERP-System, das sie verdienen. Dass es manchmal nicht hinreichend passt und den Geschäftsbetrieb nicht wirklich unterstützt, tritt dann aber oft in den Hintergrund. Vielleicht fehlen bisweilen einfach auch der Mut und die Strategie für den Wandel im Unternehmen, nicht immer sind die Systeme Schuld.