Juni-Rückblick: Zur Lage der Nation

Das ist Fußball. Das Deutschland. Mesut Özil schießt den Anschlusstreffer. Und der Bundes-Innenminister steht mal wieder im Abseits. Oder was soll man davon halten, wenn einem eine langweilige Telefonfirma eine Pressemitteilung mit der Betreffzeile “Olé, Olé, Olé” zumailt? Verstört fragt man sich da doch, worum es eigentlich geht.

Nun, es geht natürlich wieder mal um Deutschland: Ältere Herren, die wirklich nicht den Eindruck erwecken, emotional überbordende Fußballfans zu sein, fahren dieser Tage mit doppelter schwarz-rot-goldener Standarte durch die Straßen. Ganz augenfällig sind diese Herren fürs Vaterland unterwegs, für das sie Flagge zeigen. Jene ist derzeit noch für 4,87 € in jedem gut sortierten Web-Shop erhältlich.

Die ansonsten blanken Außenspiegel bundesdeutscher Kraftfahrzeuge sind mit schwarz-rot-güldnen, Büstenhalter-ähnlichen Textilien verhüllt – für 5,87 € im Set. Und weil der Verunstaltungswille eines Patrioten sich nicht auf sein Auto beschränken darf, werden auch ein “Herrenbadeanzug Mankine, Deutschlandflaggen-Design”, (9,47 €), das “Stirnband Hairy Deutschland” (4,67 €) oder alternativ der “Tirolerhut mit Deutschlandkordeln” (4,77 €) angeboten.

Das Vaterland erfordert halt vollen Körpereinsatz. Für die deutsche Frau gibt es deshalb “Bunny-Haarreifen in Deutschlandfarben” für 3,87 € das Stück und das “Bikini-Oberteil Deutschland” für 8,97 €. Getragen von einer ansehnlichen Patriotin, ist dieses übrigens durchaus in der Lage, auch vaterlandslose Gesellen zu begeistern.

Zu anderen Zeiten ist der deutsche Patriotismus ja eher unspektakulär. Er drückt sich etwa dadurch aus, dass Tageszeitungsredakteure mit einem Tariflohn von 3.032 €, denen nicht einmal ihr Arbeitsplatzrechner gehört, umstandslos von “unserer Wirtschaft” schreiben. Immer aber, wenn deutlich besser Verdienende auf internationaler Ebene kicken, bringt die hiesige Vaterlandsliebe ein nationalfarbenes Fahnenmeer preiswerter Fan-Artikel hervor. Was die Patrioten sich halt bei solchen Tariflöhnen leisten können.

Da ist es eigentlich nur folgerichtig, dass auch die langweilige Telefonfirma den nationalen Taumel für’s Marketing nutzen möchte. Andere tun das schließlich auch. Der Bundesinnenminister etwa. Der nutzt ihn, um sein Lieblingsprojekt, die Vorratsdatenspeicherung zu vermarkten.

“Özil ist garantiert kein Deutscher”, hat ein anonymer Twitterer gepostet. Außer diesem Twitterer bezweifelt das eigentlich niemand. Und erst recht interessiert es niemanden.

Nicht einmal der griechische Torwart hat sich – quasi als verzweifelt-juristische Abwehrmaßnahme -irgendwelche Reisepässe zeigen lassen, bevor der geborene Gelsenkirchner Mesut Özils auf den Berliner Jérôme Boateng abgab und jener wiederum auf den Stuttgarter Sami Khedira, welcher schließlich zum 2:1 für Deutschland abschloss.

Hans-Peter Friedrich aber suggerierte gegenüber der Neuen Osnabrücker Zeitung vom 21. 6., dass man bloß “mangels Vorratsdatenspeicherung” die Verbreitung von Unsinn über die Staatsbürgerschaft Özils nicht verhindern könne. Die Daten des absonderlichen Twitters allerdings sind gespeichert – bei dessen Provider und bei Twitter. An der Datenspeicherung kann’s also nicht liegen.

Gegen Unsinn hilft die einfach nicht. Über Hans-Peter Friedrich sind übrigens auch sehr viele Daten gespeichert…

…beispielsweise, dass er die Vorratsdatenspeicherung als probates Mittel gegen Islamismus, Rechtsradikalismus und jetzt eben auch gegen twitternde Hooligans gepriesen hat.

Das Wort eines großen und völlig unumstrittenen Deutschen, weil deutschen Komikers, kommt einem da doch in den Sinn, jenes von Otto Waalkes: “Ich könnte Ihnen noch Tausende von Gründen nennen, wenn mir nur welche einfielen.”

Ansonsten ist die Nation aber doch in einer wirklich guten Verfassung. Aktuelle Nationalhelden heißen mit Vornamen neben Mesut Mario, Jérôme, Miroslav und Sami. Letzter, der Stuttgarter Khedira, spricht sogar deutsch mit einer ähnlichen Färbung wie zwei der einst größten hiesigen Dichter und Denker, Friedrich Schiller und Friedrich Hegel. Das alles lässt den derzeit brandenden deutschen Patriotismus nicht gar so bedrohlich erscheinen.

Und auch das Public Viewing, das in seiner ursprünglichen Bedeutung oft Folge von nationalen Wallungen war, hat seinen Schrecken verloren. Früher verstand man darunter eine Leichenschau, heute das gemeinsame Fernsehen auf eine Großbildleinwand. – Gestern beispielsweise im Biergarten.

Da ist es aber nicht so gelaufen, wie gehofft. Wären die Fußball-Devotionalien nicht gar so billig und hätten ein paar Funktionen mehr, Millionen Flaggen hierzulande würde heute auf Halbmast gesetzt. Schade drum, bis Sonntag wäre der nationale Überschwang durchaus noch zu ertragen gewesen.

“Wir weinen” titelte nach Spielende die Online-Ausgabe jener Tageszeitung, die sich durch eine übergroße Vaterlandsliebe und ein arg gebrochenes Verhältnis zur Muttersprache auszeichnet. Da ist es doch gut, dass es im Online-Shop auch diese “Taschentücher Germany” gab – für 1,44 € die Packung.

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