Digitale Inselsysteme durchgängig verbinden

Flender bietet für jede Anforderung das passende Getriebe aus dem Baukasten oder als individuelle Kundenlösung. Für die Entwicklung einer neuen Getriebelösung hat Flender Prozesse durchgängig digitalisiert. Ein Interview mit Peter Hensel von Flender und Andreas Liesche von adesso Manufacturing Industry Solutions.

Herr Hensel, was war für Flender der Anlass, neue Wege bei der Entwicklung des neuen Getriebes zu beschreiten?

Peter Hensel: Wir wollten mit Flender One ein neues Produkt auf den Markt bringen, das der Kunde schnell, einfach und auf sich zugeschnitten von uns beziehen kann. Im Zuge der Produkteinführung haben wir sämtliche Systematiken und altbewährten Prozesse bei uns hinterfragt und dieses Produkt als Impuls gesehen, um uns stärker zu digitalisieren. Bis dato beruhte die Konfiguration eines solche Produkts auf einer veralteten SAP-Varianten-Konfiguration. Aus diesem Grund haben wir eine offene und modulare Lösung gesucht. Wir haben uns alles, was Rang und Namen hat in der Konfiguration, angeschaut, und festgestellt, dass es nichts auf dem Markt gibt, was uns wirklich adäquat unterstützt. Erst das Projekt mit adesso ermöglicht einen der Kerneigenschaften, die Flender One so besonders macht: Individualität für den Kunden. Der Markt will immer stärker angepasste, auf individuelle Bedürfnisse zugeschnittene Produkte haben. Das heißt, mit einem Katalogprodukt kommt man heutzutage nicht mehr weiter. Um Wachstumsgrenzen zu sprengen, müssen wir individuelle Produkte fertigen und verkaufen können. Und in dem Zuge haben wir dann entschieden, mit adesso etwas Eigenes zu entwickeln.

Ist Mass Customization also die Besonderheit?

Andreas Liesche: Genauso so wird es im Consumer-Markt bezeichnet – die Herstellung von kundenindividuellen Produkten. Also mein Müsli, meine Pizza, meine Küche, mein Auto. Das Beispiel Auto zeigt aber den Unterschied zu Einzelfertigern. Auch wenn ein Auto eine Million Varianten hat, dann sind diese trotzdem alle vorgedacht. Als Kunde wählt man aus einem Baukasten Komponenten aus und die Individualität geschieht dadurch, dass man die Standardkomponenten zu einem Auto individuell zusammenbaut. Aber es wird dabei kein neues Einzelteil erzeugt. Das heißt, es gibt die Zeichnungen, die 3D-Daten, Preise, Lieferanten. All das ist schon da. Wenn ich jetzt aber eine Abweichung habe, zum Beispiel drei Schiebedächer im Auto haben, dann kann der Hersteller das nicht anbieten. Dann muss ich individualisieren, Löcher ins Dach machen und die Schiebedächer einbauen.

Was bedeutet das für die Einzelfertigung?

Andreas Liesche: Das würde jetzt im industriellen Maßstab bedeuten, dass man ein solches Getriebe erst einmal im Engineering verändern muss. Man muss die Bauteile verändern und man muss es auch nachrechnen, damit es immer noch funktioniert. Also die Geräuschentwicklung, die Festigkeit, die Lebensdauer oder thermische Dinge. Und für ein Getriebe, das man nur einmal baut, sind das erhebliche Kosten. Und deswegen ist die Idee diese Engineering-Tätigkeiten zu digitalisieren und zu automatisieren, um das eben nicht mehr durch die Engineering-Abteilung machen zu müssen, sondern das über Algorithmen abzubilden. Und dafür braucht man eben völlig andere Werkzeuge als nur einen Vertriebskonfigurator wie für ein Auto. Wir erzeugen im Prozess die gesamten Daten, die sonst aus dem Engineering kommen: 3D-Modelle, Zeichnungen, CNC-Code für Maschinen oder Qualitätsdokumente. Diese Daten und Dokumente werden automatisiert erzeugt.

Es wurden in der Entwicklung bisher also noch manuelle oder analoge Zwischenschritte gemacht. Und jetzt kann man ein solches Projekt komplett durchdigitalisiert umsetzen?

Peter Hensel: Heute ist es so, dass wenn ein Getriebe produziert wird und Kunden Spezialanforderungen haben – das kann auch einfach nur sein, dass ein Sensor an einer anderen Stelle liegt – dann ist dies schon Customizing. Dieses Getriebe würde zu einem Konstrukteur gehen, der sich das anschaut, Änderung einbringt in die Zeichnung und in die Konstruktion. Erst danach würde dieses Getriebe in eine Stückliste übersetzt und produziert werden. Bis dahin hätte man aber Engineering-Stunden produziert. Und wir wollen ist, dass ein Kunde ein Getriebe mit seinen Änderungswünschen bestellen kann der ganze Konstruktionsprozess automatisiert abläuft. Und heute würden dafür einige Engineering-Stunden dahinter hängen.

Andreas Liesche: Man findet heute schon noch Papier in den Industrieunternehmen. Es wird zum Beispiel sehr viel Papier an die Arbeitsplätze gebracht, wo die Leute Teile fertigen oder Baugruppen montieren. Im Engineering dagegen gibt es kein Zeichenbrett mehr, sondern die arbeiten alle digital. Es gibt aber ein anderes Problem. Selbst wer SAP im Haus hat, hat noch hunderte andere Software-Systeme, die aber leider nicht gut miteinander verbunden sind. Wir haben also digitale Inselsysteme und digitale Monolithen. Es geht also um digitale End-to-end-Durchgängigkeit, indem wir die verschiedenen Inseln verbinden. Und dafür brauchen wir einen Klebstoff, um die Systeme miteinander zu integrieren und auch die Abläufe, die im Unternehmen stattfinden, digital zu steuern. Um im Fall von Problemstellungen schnell Lösungen zu finden, keine Zeit zu verlieren und keinen Ausschuss zu produzieren.

Ist das denn alles Software, die Sie als Adesso mit reinbringen? Oder verbinden Sie auch Software, die Sie selbst nicht machen?

Andreas Liesche: Ein Großteil der Software ist schon da, etwa SAP, PLM, CAD oder Produktionssysteme. Wir verbinden also vorhandene Software, füllen aber auch weiße Flecken, zum Beispiel beim Wissensmanagement, bei Regelwerken oder Automatisierungsfunktionen. Das kann man so nicht kaufen, ist also individuelle Software.

Sie fragen also nicht mehr nach den Spezifikationen und Eigenschaften des Getriebes, sondern gehen zum Kunden und fragen, was er an Besonderheiten braucht. Und das nehmen Sie auf und produzieren dieses Getriebe nach Wunsch?

Peter Hensel: Was wir erreicht haben, ist, dass Sie als Redakteur in der Lage wären, ein Industriegetriebe auszulegen und bei uns zu kaufen. Und das wäre das richtige Getriebe für Ihre Anforderung. Das heißt, wir fragen nicht mehr nach technischer Funktion, sondern wir fragen zum Beispiel: Steht das Getriebe in einer staubigen Umgebung? Wir liefern dann passend dazu das Getriebe mit den entsprechenden Dichtungen. Und wir sind tatsächlich in der Lage, mit drei Fragen und technischen Größen ein funktionsfähiges Industriegetriebe auszulegen.

Die vorherige Vorgehensweise war demnach ein kostspieliges Unterfangen. Wie wirkt sich die neue Vorgehensweise auf die Kosten aus?

Peter Hensel: Wir stellen fest, dass viele Wissensträger aus Altersgründen die Unternehmen verlassen. Es kommen junge Kollegen nach, die noch nicht so erfahren sind. Dadurch erhöht sich der Aufwand in die Auftragsklärung. Wir wissen, dass ein Ingenieur bis zu zehn Jahre seines Arbeitslebens in Auftragsklärung und Konfiguration investiert. Und wir wollen diesen Aufwand reduzieren, was sich auf die Kosten auswirkt, da ein Kunde jetzt mit drei Klicks sein Getriebe konfiguriert. Das ist viel einfacher, als wenn er erst bei uns anrufen, sein Problem schildern und 200 Fragen beantworten muss.

Es geht also zuvorderst um Zeiteinsparung. Lässt sich das beziffern?

Andreas Liesche: Es gibt ja schon immer individuelle Getriebe, aber die sind dann eben Manufakturarbeit mit entsprechendem Aufwand. Solange der Kunde bereit ist, das auch zu bezahlen, kann er die Manufakturware auch bekommen. Beim Mass Customizing im Consumer-Bereich bedeutet dies: Ich bekomme etwas individualisiert, muss aber nicht mehr dafür bezahlen und muss auch nicht länger warten. Das versuchen wir auf die Industrie zu übertragen. Der Unterschied: Der Kunde wird jetzt nicht unbedingt etwas billiger bekommen. Aber er wird für den Preis mehr Individualisierung bekommen. Für die er bisher deutlich mehr bezahlen musste. Und wenn das Getriebe passgenauer konfektioniert wird, dann führt dies zu weniger Verschwendung, also mehr Nachhaltigkeit im Sinne von Ressourcenverbrauch oder Wirkungsgrad.

Sie sprechen von ganzheitlicher, ausgeklügelter Enterprise-Architektur. Klingt gut. Was ist damit gemeint?

Andreas Liesche: Die Unternehmen, die wir beraten, sind in der Regel in ihrem Marktsegmenten führend. Sie sind die Leuchttürme des deutschsprachigen Maschinenbaus. Das gilt auch für Flender, das auch sehr viele Software-Systeme im Einsatz hat und KI, IoT oder Blockchain nutzt. Aber eben häufig in einem monolithischen System mit sehr vielen Inseln. Das betrifft die IT-Systeme, aber es betrifft – was noch viel schlimmer ist – auch die Daten, die sehr redundant in mehreren Systemen benötigt werden. Und wenn ich Monolithen habe, dann muss ich diese Daten replizieren. Ich muss sie dann überall in den Systemen vorhalten, mehrfach pflegen. Dadurch passieren Fehler: Daten sind unvollständig oder nicht aktuell.

Und in einer modernen Architektur ist dies nicht mehr der Fall?

Andreas Liesche: Wenn wir von einer modernen Architektur sprechen, dann meinen wir aus IT-Sicht, dass wir Monolithen in Module zerlegen, die wir als Services bezeichnen. Und diese Services machen wir mit standardisierten Schnittstellen verfügbar. Wir bauen also eine individuelle Unternehmens-IT-Architektur auf, die genau für Flender passt. Und man kann mit ähnlichen Bausteinen in einem anderen Unternehmen auch wieder eine individuelle Architektur aufbauen, die für das andere Unternehmen genau passt. Und das ist ein anderer Ansatz gegenüber dem Best of Suite-Ansatz, wie es zum Beispiel SAP sagt: Alles, was du bei uns kaufst, ist toll integriert. Das stimmt auch. Aber in dem Moment, wo man Funktionen benötigt, die SAP nicht liefert, dann muss man was daneben stellen, was meist schlecht angebunden ist. Und das ist leider in der Industrie besonders ausgeprägt, weil man einfach so hohe technische Komplexität hat. Eine moderne Architektur ist also modularer, weniger monolithisch und lässt sich aufgrund dessen auch schneller anpassen auf geänderte Rahmenbedingungen oder neue Geschäftsmodelle.

Hat die Flexibilität auch etwas mit dem Thema „Low Code, No Code“ zu tun?

Andreas Liesche: Wir nutzen offene Datenformate, so dass der Datenaustausch mit anderen Systemen leichter ist. Und Low Code stimmt, da ein Entwickler Programmiersprachen beherrschen kann, ein Ingenieur oder Elektrotechniker aber nicht unbedingt. Deswegen geben wir ihm Werkzeuge an die Hand, mit denen er das in einer Low Code ähnlichen Form beherrschen kann. Jemand, der Excel nutzen kann und weiß, wie man eine Formel eingibt, der kann unser System auch nutzen. Die Themen Low Code, Modellierung und Generierung von Software zieht sich also durch, was den Fachbereichen hilft, selber handlungsfähig zu werden. Man muss also nicht für jede Änderung ein IT-Projekt starten.

Das Konfigurieren eines Getriebes ist also deutlich einfacher?

Andreas Liesche: Aus technischer Perspektive müsste man einige 1000 Werte eingeben. Wir haben das so verdichtet, das eine Hand voll Werte reichen, da wir daraus sehr viel ableiten können. Aber trotzdem ist es natürlich eine relativ trockene Benutzeroberfläche. Man sieht eigentlich Felder, wo man was eingibt, wo man was auswählt. Und wir haben das angereichert durch eine mitlaufende Preisfindung, auch durch eine mitlaufende 3D-Visualisierung, die neu entwickelt wurde, um auch schnell zu sein. Klassisch ist das so, dass sie erst mal technisch konfigurieren und wenn sie das 3D sehen wollen, drücken sie einen Knopf und warten dann eine Weile, bis das angezeigt wird. Wir haben es aber mit der Konfiguration so eng verbunden, dass man während man klickt, praktisch permanent mitlaufen, die Visualisierungen sich ansehen, vergrößern und reinzoomen kann.

Peter Hensel: Um vielleicht auch ein paar Zahlen dazu zu nennen. Um für unsere Kunden ein Vertriebs 3D Modell bereitzustellen, mussten wir 10 Mannjahre investieren. Was wir jetzt geschaffen haben, ist eine Technologie, die auf Basis unseres Engineering-Modells dem Kunden seine Konfiguration als digitalen Zwilling, mit einem Bruchteil des Aufwandes zur Verfügung stellt.

Peter Hensel

leitet das Configuration und Data Management bei Flender und verantwortet weltweit alle Themen rund um die Getriebekonfiguration. Zuvor war der studierte Elektrotechniker in verschiedenen Innovationsprojekten bei Siemens tätig.

Andreas Liesche

hat Maschinenbau studiert und zunächst als Konstrukteur im Bereich der Medizintechnik gearbeitet, bevor er die Seiten zu Softwareanbietern gewechselt hat. Heute ist er Geschäftsführer von adesso Manufacturing Industry Solutions und Leiter Competence Center Consulting – Fertigungsindustrie bei adesso SE.

Roger Homrich

Recent Posts

Positiver ROI ist das beste Argument für KI-Projekte

2023 war das Jahr des Experimentierens mit KI. 2024 zieht KI in den Arbeitsalltag ein,…

20 Minuten ago

Industrie 4.0-Adaption: China fast immer in der Pole Position

Laut Umfrage nutzen 94% der chinesischen Fertigungsunternehmen KI-basierte Lösungen. In der DACH-Region liegt der Vergleichswert…

17 Stunden ago

Cybersicherheit: Deutsche Autobauer fahren hinterher

Laut Kaspersky-Umfrage hat kaum jeder zehnte den neuen UN-Standard WP.29 implementiert. Weiterer 28% haben noch…

18 Stunden ago

BSI warnt vor kritischen Schwachstellen in Microsoft Exchange Server

Rund 17.000 Exchange-Server-Installation in Deutschland gelten als stark gefährdet. Sie werden entweder nicht mehr von…

20 Stunden ago

Porsche eBike Performance setzt auf KI-gestützte Software

Die Porsche-Tochter hat mit Automatisierungsfunktionen und Bots in Freshservice den IT-Service automatisiert und skaliert.

2 Tagen ago

Privates 5G-Netz für Rheinhäfen Karlsruhe

Über das private 5G-Campusnetz will das Unternehmen logistische Prozesse digitalisieren und künftig in Echtzeit steuern.

2 Tagen ago