Die neuen Grenzen des Contact Centers

Warum nicht vom allgemeinen Kundenbeziehungsmodell zu einem individuellen Beziehungsmodell übergehen, fragt Gastautor Jean-Denis Garo von Odigo.

Die Verteilung eingehender Anrufe richtet sich allzu oft nach der Verfügbarkeit der Agenten, dabei sollte sie sich in erster Linie nach den Bedürfnissen des Kunden richten. Das Contact Center darf nicht als reine ACD (Automatic Call Distributor) verstanden werden. Man sollte die Qualifizierungsphase mit IVR und KI noch einmal überdenken und gleichzeitig das Contact Center um andere Mitarbeiter erweitern, und zwar nicht nur um Agenten, die sich um Kundenbeziehungen kümmern. Anders ausgedrückt: Jetzt ist es an der Zeit, die Grenzen des Contact Centers neu zu definieren.

Kundenbeziehungen sind jedermanns Sache

Die Hauptaufgabe von Contact Center-Agenten ist die Bearbeitung von Kundenanfragen. Für einmalige oder wiederkehrende Spezialanfragen müssen jedoch zunehmend auch andere Mitarbeiter innerhalb von Organisationen einbezogen werden. Die Einbindung sämtlicher Mitarbeiter wird immer wichtiger, besonders der sogenannten “Frontline Workers” (FLW), die auf dem Höhepunkt der Gesundheitskrise in den Mittelpunkt der Medien gerückt sind. Sie kommen als erste in Kontakt mit den Kunden, sehen als erste das Ergebnis neuer Produkte und Services in der Praxis und sind die ersten, die eine Marke repräsentieren. Diese FLWs sind zugleich Lieferanten, Warenhausmitarbeiter, Warenhaus-Agenten und viele mehr. All diese Personen haben gemeinsam, dass sie nicht hinter einem Schreibtisch sitzen. Sie werden zudem häufig in Sachen Arbeitsmittel vergessen, und viele von ihnen sind schlecht mit digitalen Geräten, wie PCs, ausgestattet.

Trotzdem scheint der Vorteil davon, dass die gesamte Organisation das Unternehmen vorantreibt, auf der Hand zu liegen, ebenso wie der Vorteil, dass die Mitarbeiter das Kundenfeedback weitergeben können. Dies ist möglich, indem alle Mitarbeiter Zugang zu Daten erhalten, die für die Kundenkommunikation genutzt werden können, zunächst über das CRM und für die Privilegierten auch über eine Verbindung zum Contact Center. Bedauerlicherweise ist dies nicht Gang und Gäbe. Laut der Studie “Desk-less not voiceless: A new approach to connecting everyone within your business” von Meta sind nur 48 Prozent der Mitarbeiter der Meinung, dass die Geschäftsleitung versteht, welche Rolle sie spielen und welchen Wert sie für das Unternehmen darstellen.

Es sind jedoch nicht nur die Frontline-Mitarbeiter, die als Experten vor Ort und auf ihrem Spezialgebiet von einer Anbindung an das Contact Center profitieren können. Tatsächlich können auch andere Mitarbeiter mit einbezogen werden, wenn sie mit digitalen Hilfsmitteln entsprechend ausgestattet sind, z. B. Führungskräfte in Bankfilialen, Verkäufer in Verkaufsstellen, Verkäufer im Außendienst oder direkt am Schalter…

Fundiertere Beweise

Mehrere Bankinstitute in Europa haben bereits beschlossen, Berater für bestimmte Einsatzzwecke in das Contact Center zu integrieren. Ein Bankberater kann auf diese Weise für ein paar Stunden pro Woche für einen bestimmten Aufgabenbereich oder ein bestimmtes Fachgebiet herangezogen werden. Ein Berater kann auch für die Bearbeitung von Overflow-Anrufen eingesetzt oder zur Urlaubsvertretung in einer anderen Filiale herangezogen werden. Auch wenn diese zusätzliche Tätigkeit mitunter regelmäßig stattfindet, macht sie den Mitarbeiter nicht zu einem formellen Agenten. Es bedeutet, dass die Bereitstellung der umfangreichen Funktionen eines Contact Centers enorme Vorteile mit sich bringen kann. Zudem kann das Unternehmen seine Ressourcen (“FTEs”) an die Kundenanfragen bei Spitzenzeiten, für die VIP-Behandlung oder im Falle eines besonderen Supports im Zusammenhang mit dem Geschäftsbetrieb anpassen.

Ein anderes Szenario: Ein Direktanruf in einem Kaufhaus ist oft zum Scheitern verurteilt. Bestenfalls nimmt jemand an der Kasse den Anruf entgegen und leitet ihn blindlings an die zuständige Abteilung weiter. Bedauerlicherweise wird ein Verkäufer im Laden den vor ihm unmittelbar stehenden Kunden, einem Anrufer in der Warteschleife vorziehen. Im schlimmsten Fall landet die Anfrage in einer Sprachmailbox, die nur selten abgehört wird. Eine mögliche Lösung besteht darin, einen interaktiven Sprachserver anzubieten: Er kann das Anrufanliegen bereits vorab mit Hilfe von DTMF oder natürlicher Sprache qualifizieren, den Anrufer und seinen Status (VIP, Kunde, Interessent usw.) identifizieren und ihn an den entsprechenden Berater weiterleiten, unabhängig davon, ob es sich um einen offiziellen Contact Center-Agenten handelt oder nicht.

Integriertes oder angeschlossenes Contact Center?

Auf der Suche nach dem passenden Berater wird die Qualifikationsphase immer wichtiger werden. Zumal die künstliche Intelligenz (Callbot, Chatbot, Virtual Agent) es möglich macht, die Ermittlung der Kundenabsicht präziser zu personalisieren und gleichzeitig über eine Verbindung zum Informations-System (IS) eine Bestätigung der Identität, Updates zum Auftragsstatus usw. zu erlauben. Sobald die Qualifizierung abgeschlossen ist, wird die Anfrage an den richtigen Mitarbeiter weitergeleitet, unabhängig davon, ob dieser ein fester Mitarbeiter eines Contact Centers ist oder zeitweilig daran angeschlossen ist.

Als Antwort auf die neuen Anforderungen, mehr Mitarbeiter in die Kundenbeziehungen einzubinden, stehen verschiedene Formen zur Verfügung (technische Architekturen). Zum einen kann eine erweiterte Agentenlizenz (auch als informeller Agent bezeichnet) definiert werden, die zwar nicht mit einer Vollzeit-Agentenlizenz gleichzusetzen ist, aber dafür auch nicht so viel kostet wie eine solche. Sie ist mit Einschränkungen verbunden, z.B. einer bestimmten Anzahl von Interaktionen pro Monat. Mit diesem Ansatz können externe Berater unabhängig von dem/den verwendeten Kommunikationskanal/-kanälen von allen Funktionen des Contact Centers profitieren (Kontext und Historie der Kundeninteraktionen). Der Supervisor behält die Aktivitäten eines informellen Agenten ebenso im Auge wie die eines formellen Agenten, und die Statistiken werden zusammengeführt.

Der andere Ansatz basiert auf der Anbindung des Contact Centers (CCaaS) an Unified Communication Tools (UCaaS) wie Microsoft Teams. In diesem Fall ist es je nach Ausbaustufe dieser Anbindung möglich, die Verfügbarkeit von Beratern oder Experten zu ermitteln, die üblicherweise z. B. Microsoft Teams verwenden, und den Anruf und den Kontext der Anfrage weiterzuleiten oder auch eine Drei-Wege-Telefonkonferenz zu arrangieren.

Vorbei sind die Zeiten, als das Contact Center allein für die Kundenbeziehungen zuständig war. Jetzt ist es möglich, alle Mitarbeiter in die Kundenbeziehungen einzubeziehen, sei es innerhalb des Contact Centers mit Hilfe eines neuen informellen Agentenprofils oder als externer Experte, der an das Contact Center angebunden ist. So entsteht ein ” kundenzentrierter ” Ansatz, den die Unternehmen übernehmen sollten, um sowohl die Kunden- als auch die Mitarbeiterzufriedenheit zu steigern.

 

Jean-Denis Garo

ist Head of Product Marketing bei Odigo.