Digitalisierung ist kein IT-Projekt. Es geht darum, Kunden auf neue Art zu begeistern – zunehmend in allen Industrien!
Die Transformation der deutschen Wirtschaft ist in vollem Gange. Dabei steht jedoch nicht mehr allein die technologische Perspektive im Fokus der Veränderung. Die Auffassung von der „Digitalisierung als IT-Projekt“ wird zusehends verdrängt zugunsten eines ganzheitlichen Umdenkens in den Führungsetagen von mittelständischen Unternehmen. Sie rührt her von der Erkenntnis, dass die schnelle, agile, teils disruptive, Digitalwirtschaft vor allem die Kundenerwartungen grundlegend verändert hat.
Inzwischen folgen immer mehr Unternehmen dem Pfad der kundenzentrierten Transformation. Konkret bedeutet das: Unternehmen konzentrieren sich bei ihrer digitalen Strategie nicht primär nur darauf, auch noch die letzten Prozentpunkte aus ihren Prozessen herauszukitzeln, um die Effizienz zu steigern und Kosten zu reduzieren. Vielmehr müssen die Innovationsbestrebungen den Kunden anstelle des Produkts ins Zentrum rücken.
Komfort ist König
Natürlich geht es nach wie vor bei jedem Hersteller und Händler um Umsatz, Profitabilität und somit letzten Endes das Verkaufen. Dennoch geht es bei der Kundenzentrierung nicht darum, die Effizienz der Vertriebsorganisation zu steigern, sondern darum, dem Kunden das Kaufen zu erleichtern. Denn die Entscheidung fällt zunehmend nicht mehr aufgrund des Preises oder sogar der Marke, sondern der Kauf- und Service-Erfahrung. Der alte Spruch “Zeit ist Geld” gilt mehr denn je, aber als digital verwöhnte Individuen erwarten wir vor allem geringst möglichen Aufwand: Jeder nötige Klick, jede unnütze Information oder Entscheidungsoption kostet Zeit und Nerven und gefährdet den Abschluss – denn der Wettbewerber, bei dem es schneller und komfortabler geht, ist nur einen Tap im Smartphone entfernt.
Zu den Vorreiterbranchen in diesem Bereich gehören naturgemäß die Konsumgüterindustrie und der Einzelhandel. Beide Branchen sind hochkompetitiv und sitzen seit jeher so nah am Kunden, dass sie dessen Erwartungen frühzeitig empfangen – und in eigenem Interesse schnell bedienen – können. Ein immer beliebteres Geschäftsmodell: die Subskription von Produkten und Services. Ob beispielsweise Hello Fresh oder Flaschenpost: Bei beiden stehen nicht Markenprodukte im primären Fokus, sondern das Erlebnis, geprägt von maximalem Komfort und hoher Geschwindigkeit. Denn Kunden profitieren bei Subskriptions-Services davon, immer wieder benötigte Produkte ohne weiteres Nachdenken (Was koche ich morgen?) oder pünktliche Besorgungen (Wann und wo kaufe ich ein? Schaffe ich es noch ins Geschäft?) ins Haus geliefert zu bekommen.
Unverrückbares verrücken
Angesichts der aktuellen Situation, in der die Corona-Krise die Weltwirtschaft völlig aus den Fugen hebt, zeigt sich aus der Geschäftsperspektive ein weiterer Vorteil: Denn mit ihren Kunden in Kontakt, oder vielmehr noch, relevant zu bleiben, ist für Anbieter dieser Geschäftsmodelle deutlich einfacher als für klassische Anbieter. Hier ist die Konsumgüterindustrie mittlerweile recht gut aufgestellt. Doch wie gelingt es etablierten Industrien, vor allem in einem traditionellen Geschäftskunden-Umfeld auf ähnliche Weise umzumodellieren? Ist es überhaupt möglich, solche Ansätze in allen Branchen umzusetzen? Wie erkennt der Unternehmer, welches Potenzial in seinem Geschäftsmodell, seinen Produkten und Services steckt?
Die größte Herausforderung für einen etablierten Unternehmer ist sein eigener Bezugsrahmen. Denn jahrelange Erfahrung kann auch ein Ballast sein. Diesen abzuwerfen und mit frischem, unverstelltem Blick neu und unvoreingenommen den – gegebenenfalls veränderten – Unternehmenszweck und die – zweifellos veränderte – Kundenerwartung zu reflektieren ist die schwierigste Aufgabe. Diese “Beginner’s Mind” ist ein Konzept aus dem Zen-Buddhismus, das viele erfolgreiche Unternehmer, wie beispielsweise Salesforce Gründer Marc Benioff verinnerlicht haben: Die Kunst, die Welt um sich herum jeden Tag aufs Neue zu entdecken.
Voneinander lernen
Am besten lernen kann ein langjähriges Unternehmen für diese Aufgabe von Start-ups. Sie genießen den Luxus, ihren Unternehmenszweck aus dem Hier und Jetzt zu definieren und sich buchstäblich auf der grünen Wiese neu zu erfinden, ohne von etablierten Abläufen oder Legacy-Systemen belastet zu sein. Eine Quelle der Inspiration für den etablierten Heizungsmarkt ist etwa das Start-up Thermondo, der Pionier von „Heizung-as-a-Service“. Das Unternehmen hat das aus der Wohnungswirtschaft bekannte Konzept des Heizungs-Contracting in einen Service für Endkunden umgewandelt.
Den Ansatz, indirekte Geschäftsmodelle zu solchen mit direkter Schnittstelle zum Endkunden umzubauen, hat beispielsweise auch Volvo mit Volvo Care erfolgreich umgesetzt. Der Kunde muss nur noch in das Auto einsteigen und losfahren. In seiner monatlichen Rate sind sämtliche Eventualitäten bis hin zur Kfz-Steuer eingepreist. Der Fahrzeughalter muss das Auto nur noch selbst betanken und durch die Waschstraße fahren. Dadurch hat Volvo einen wertvollen Schatz gehoben: Nämlich den direkten Kontakt zum Endkunden und das Wissen um dessen Erwartungen – beides war dem Hersteller früher weitgehend unbekannt, da alles über den Händler lief.
Ähnlich beeindruckend progressives Umdenken sehen wir mittlerweile bereits auch von Unternehmen, die in einem reinen Geschäftskundenumfeld agieren. So hat zum Beispiel der Messgeräte-Hersteller Endress+Hauser mit seiner digitalen Plattform Netilion die Transformation vom Produktanbieter zum Serviceprovider gemeistert und nicht nur neue Abonnement-basierte Umsatzquellen erschlossen, sondern für neue Differenzierung durch besseres Kundenerlebnis gesorgt.
Der einfache Teil: Die Technologie
Was diesen Wandel überhaupt ermöglicht, ist natürlich die geeignete Technologie. Allerdings ist sie der einfache Teil – denn sie ist bereits heute verfügbar und hat ja die Komfort-Erwartung der Kunden überhaupt erst geprägt. Die weit schwierigere Herausforderung für ein Unternehmen besteht darin, neu vom Kunden her zu denken und vor allem, die gesamte Organisation begeistern und befähigen zu können, ihre vormals produktzentrierte in eine kundenzentrierte Unternehmenskultur zu wandeln.
Bereits vor der Krise hatte die Erkenntnis, dass Kundenerlebnis-Exzellenz über Produkt-Qualität hinaus der Schlüssel zu neuer Differenzierung und künftigem Wachstum ist, zunehmend ihren Weg in die Vorstands-Etagen auch traditioneller Industriegüter-Hersteller gefunden. Gut, wer diese Erkenntnis bereits in Form einer neuen kundenzentrierten Strategie, aus einer Position der Stärke heraus, beginnen konnte umzusetzen. Für andere sprang der zündende Funke in dieser ungewöhnlichen Zeit vielleicht jetzt im Vorstands-Homeoffice.