Stefan Kolmar

ist Vice President, Field Engineering EMEA & APAC bei Neo4j

Digitaler Zwilling für PLM: Mit Graphtechnologie zum vernetzten Auto

Vernetzte und autonome Fahrzeuge waren vor wenigen Jahren noch Wunschvorstellung. Heute sind sie heute bereits Realität. Immer mehr Software-Komponenten, Sensoren und Schnittstellen halten Einzug ins Auto. Die zunehmende Konnektivität des Fahrzeugs macht das Produkt „Auto“ um ein Vielfaches komplexer und verlangt nach neuen Ansätzen für das Product-Lifecycle-Management (PLM).

In einem Fahrzeug stecken durchschnittlich 100 Kommunikationsbusse, die Informationen innerhalb des Fahrzeugs übertragen, 200 Steuergeräte, die rund 400 Funktionalitäten wie Beschleunigung, Kollisionsschutz, Audio oder GPS regeln, und 2.000 Softwarekomponenten, die rund 10.000 Signale aus allen Bereichen des Fahrzeugs verarbeiten und austauschen. Halbautonome und fahrerlose Fahrzeuge gehen noch einen Schritt weiter und umfassen hochentwickelte Systeme, Hochleistungsrechner, ADAS (Advanced Driver Assistence System)-Sensoren und HMI (Human Machine Interface). Software spielt für die Zukunft des Autos eine entscheidende Rolle. Doch die Softwareentwicklung ist mühsam und zeitaufwendig. Außerdem braucht es viele Programmierer, die es in der Automobilindustrie derzeit nicht gibt.

(Bild: Unsplash)
(Bild: Unsplash)

Zusammenhänge über den gesamten Produktlebenszyklus von der Entwicklung über die Fertigung bis zu Reparatur und Wartung im Blick zu behalten, gestaltet sich zunehmend schwierig. Viele Automobilhersteller verwenden Excel-Tabellen und Stücklisten zur Rückverfolgung. Strukturierte und unstrukturierte Daten werden in ERP, PDM oder DAM/PIM gespeichert und mit verschiedenen Entwicklungs-Tools modelliert. All diese unterschiedlichen Arten von Informationen beschreiben ein einzelnes Produkt. Der komplette Bauplan, sozusagen die Produkt-DNA, liegt bei Herstellern jedoch verteilt in Datensilos und kann nur in Teilansichten betrachtet werden. Ein einfacher und schneller Zugriff, um zu sehen, wie einzelne Fahrzeugkomponenten im Gesamtkontext miteinander zusammenhängen, ist damit unmöglich. Genau dieser Einblick ist notwendig, um die jeweilige Funktion einer Komponente und ihre Abhängigkeit zu anderen zu verstehen, mögliche Diskrepanzen zu identifizieren und so Fehler und Störungen vorzubeugen.

Graphen für vernetzte Daten

Im Gegensatz zu relationalen Datenbanken, die Daten in vorgegebenen Zeilen und Spalten speichern, bilden Graphdatenbanken Objekte (Knoten) und deren Beziehungen (Kanten) als verbundene Strukturen ab. So lassen sich große Datenmengen visualisieren und managen. Verschiedene Systeme, wie ERP oder PDM können miteinander verbunden werden, um Datenzusammenhänge und neue Perspektiven aufzuzeigen. Anstatt alle Funktionalitäten in mehrere Tabellen aufzulisten, entsteht auf diese Weise ein zentraler Wissens-Hub, der das Wissen über ein Produkt ganzheitlich abbildet und ein nachvollziehbares und umfassendes Bild aller Fahrzeugkomponenten und deren Beziehungen untereinander zeichnet.

Virtuelles Produktdesign mit digitalem Zwilling

Graphtechnologie bietet damit auch die Ausgangstechnologie für die Entwicklung eines digitalen Zwillings. Das virtuelle Ebenbild eines Produkts enthält alle relevanten Daten und Simulationsmodelle, um eine Maschine, eine Fabrik oder eben auch ein Fahrzeug und dessen Fahreigenschaften digital darzustellen.

Mit Hilfe dieses digitalen Doppelgängers können Entwickler und Industrial Design Engineers schneller Prototypen entwerfen, das Verhalten von Motorteilen oder anderer Komponenten simulieren, und kontinuierlich an der Verbesserung der Funktionalitäten arbeiten. Der digitale Zwilling kommt nicht nur in der Entwicklungsphase zum Einsatz, sondern begleitet sein reales Vorbild über den gesamten Lebenszyklus hinweg – einschließlich Reparatur- und Wartungsservice.

Digitale Zwillinge bestehen aus Unmengen von Daten, die in Echtzeit erzeugt und aktualisiert werden. Dazu gehören neben Produkt-, Konstruktions- und Stammdaten aus unternehmensinternen Systemen auch IoT-Sensoren, die kontinuierlich Daten sammeln und über die Cloud einspeisen. Graphdatenbanken bieten hier die nötige Performance, Skalierbarkeit und Flexibilität, um unterschiedliche Datenquellen zu vernetzten und über Graph-Algorithmen auszuwerten. Daten einer bestimmten Funktion werden so fortlaufend untersucht und die Erkenntnisse für andere Anwendungen zugänglich gemacht. Daraus lassen sich Schleifen (Loops) im Systemdesign identifizieren, Cluster erkennen, die ideale Sequenz von Prozessen definieren und die Projektplanung optimieren. Neue Datensätze lassen sich dank der Knoten-Kanten Struktur beliebig hinzufügen und ändern. Die Abfragen der stark vernetzten Daten erfolgen in wenigen Millisekunden.

Abhängigkeiten simulieren

Bei Simulationen von zukünftigen Produkten können Entwickler im Graph sofort erkennen, dass die Änderung einer Funktion Auswirkungen auf die anderen haben kann. Dies ist überaus nützlich und erlaubt einen agileren Designprozess, bei dem die einzelnen Entwicklerteams abteilungsübergreifend zusammenarbeiten, um die Gesamtfunktionalität eines Produkts sicherzustellen.

Ein anschauliches Beispiel ist das Ver- und Entriegeln einer Autotür per Funkschlüssel. Beim längeren Drücken des Knopfs verriegelt sich nicht nur die Tür, auch alle offenen Fenster sowie das Schiebedach werden automatisch geschlossen. Aus diesen Zusammenhängen lässt sich ein Graph mit vier Knoten erstellen, die über Kanten miteinander verbunden sind. Die übergeordnete Funktion „Öffnen/Schließen“ ist mit der Zentralverriegelung Türen, Fenster und Schiebedach verknüpft. Doch das ist nicht alles. Es gibt noch zahlreiche weitere Produktfunktionalitäten, die mit der übergeordneten Funktion des Ver- und Entriegelns der Autotür verbunden sind, zum Beispiel das Einklappen der Außenspiegel am Auto oder ein kurzes Audio- und Lichtsignal, das anzeigt, dass das Fahrzeug tatsächlich verriegelt ist. Darüber hinaus lassen sich Fahrzeuge mittlerweile auch mit dem Smartphone verbinden und das Auto per App ver- und entriegeln, so dass weitere Knoten im Graphen hinzukommen.

Die steigende Konnektivität und Komplexität von Produkten betreffen nicht nur die Automobilindustrie. Mit dem IoT und der wachsenden Nachfrage nach smarten und vernetzten Maschinen sind Hersteller in allen Branchen gefragt, neue agile Design- und Fertigungsprozesse einzuführen und den Kundenservice rund um Wartung und Reparatur zu verbessern. Nur so können sie dem Innovationsdruck entgehen und langfristig wettbewerbsfähig bleiben. Der tiefe Blick in die DNA ihrer Produkte ist hier grundlegend.