Godelef Kühl

ist ERP-Branchenkenner und als Vorstandsvorsitzender der godesys AG "verantwortungsvoller und pragmatischer Unternehmer mit Bodenhaftung".

Frisst die App-Ökonomie das ERP?

Stell Dir vor, es gibt für alles eine App: Kundendaten oder Aufträge erfassen, Serviceaufträge steuern, Material buchen und, und, und. Keine Sorge, ich kenne das Überangebot der App-Stores. Die Apps sind da, dessen ist sich auch ERP-Experte Godelef Kühl, Gründer und Chef des ERP-Herstellers Godesys, bewusst. Droht jetzt die Spaghetti-Applikationslandschaft?

Und täglich neue Apps sorgen nicht unbedingt für mehr Vielfalt, sondern nur für mehr Langeweile. Doch warum sind die Entscheider müde? Warum adaptieren wir Apps nicht im komplexen ERP-Umfeld? Wo doch jeder ERP-Hersteller, der was auf sich hält, heute mindestens eine App hat. godesys hat sogar zwei – godesys CRM Sales und godesys CRM Service. Genutzt werden sie allerdings kaum. 
 
Vielleicht weil wir keine Ahnung von Usability und mobilen Business Cases haben? Mag sein. Aber dann müssten doch die zahllosen Spezialanbieter mit ihren Apps für Servicemanagement oder Kundensteuerung reüssieren, oder? Tun sie aber auch nicht. Und warum? Weil sie kein ERP können. Sie können vielleicht einen Serviceeinsatz steuern. Doch wer schreibt dann die Rechnung? Genau! Irgendwo in der Prozesskette fehlt jeder dieser Apps der ganzheitliche integrierte Ansatz. Dieses Dilemma können wir als ERP-Hersteller nun auf zwei Arten lösen: Entweder wir integrieren perfekt die diversen Apps von Drittanbietern oder aber wir investieren massiv weiter in unsere eigene App-Entwicklung, um etwas zu lernen, von dem wir nicht wissen, ob es fehlt. 
 
Beide Ansätze treffen aber nicht den Kern des Problems: Den ersten Weg geht derzeit mangels Alternative die halbe Start-Up- und App-Industrie. Und so beobachten wir einen wachsenden API (Application Programming Interface)-Wildwuchs, weil nun jeder App-Entwickler mit jedem Dritten über eine individuell programmierte API Inhalte austauschen möchte (Stichwort: Dropbox-Integration). So entsteht in Echtzeit beim Anwender eine Spaghetti-Applikationslandschaft, die den ERP-Hersteller fassungslos zurücklässt. Denn der steht seit Jahren für den bewährten “Single Point of Truth”-Gedanken, den ein integriertes ERP-System verkörpert und nicht für das fröhliche Nebeneinander lose gekoppelter Applikationen, die wertvollste Daten einfach über unkontrollierte Cloud-Wege austauschen. 
 
Verbleibt dem ERP-Hersteller also nur die massive Eigeninvestition in Apps, frei nach dem frisch bei Microsoft geliehenen Motto „Cloud first. Mobile first“?  Ohne Zweifel beinhalten die neuen Technologien vieles, das für ERP-Anwender wertvoll ist. Aber wie wollen wir mit diesen Lösungen am Markt durchkommen? Die Ein-Euro-App aus dem App-Store wird den Invest leider nicht wieder verdienen. „Economics of Scale“ nennt das der Amerikaner. Die App und die Idee mögen schön sein, aber am Ende rechnet sich das einfach nicht. Das ist die Realität. Aktuell kenne ich keinen ERP-Hersteller, der seine App-Entwicklungskosten wieder einspielt. Nur sagen will`s keiner. Wirkt uncool! Ich bin aber Mittelständler und habe daher von Natur aus keine Schmerzen mit der Wahrheit: Auch die godesys-Apps sind nur Beispiele einer funktionierenden Technologie. Finanziert aus dem Marketing-Budget und für unsere ERP-Anwender kostenfrei bereitgestellt. Ein Geschäft sind sie nicht.
 
Wie kann man das ändern? Meiner Meinung nach steckt der mobile Markt immer noch in den Kinderschuhen. ERP wird ob des integrierten Steuerungsansatzes seine Wertigkeit behalten. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass gerade der ganzheitliche ERP-Gedanke für die Komplexität der Antworten steht. Betriebliche Apps müssen einfach auf unwahrscheinlich vielen Feldern wie Design, Usability, Endgeräte-Anpassung, BWL-Funktion, SCM-Integration und anderen gut sein, um wirklich genutzt zu werden. Erreichen können wir das nur in einer echten Partnerschaft mit unseren Anwendern. Weil Apps üblicherweise eine End-to-End-Lösung schaffen, weil Apps häufig beim Consumer ansetzen und weil Apps das Potenzial haben, eine komplette Wertschöpfungskette zu verändern. Und dieses Potential kennt leider nur mein Kunde, der ERP-Anwender.
 
Kann ein ERP-Hersteller also eine App entwickeln, die das Potential hat, einen Markt aufzurollen? Oder ist es naheliegender, dass die hungrigen App-Hersteller nun auch noch Backend-Entwicklung betreiben? Ich meine, wir ERP-Hersteller müssen unseren Kunden integrative Technologiebeispiele liefern und dann auf die Adaption mit unseren Kunden hoffen. Denn nur die wissen, was die eigene Branche braucht. Am Ende sind beide – egal ob App- oder ERP-Hersteller – einfach nur Werkzeuglieferanten. Der Kunde soll entscheiden, ob er ein Schweizer Taschenmesser oder nur einen Schraubenzieher braucht.