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Mut zu Industrie 4.0: Echte Visionen brauchen Investitionen

Die Hannovermesse 2015 ist vorbei. Viel haben wir dort über das Thema Industrie 4.0 gesprochen, diskutiert und teilweise gestritten. In einem zentralen Punkt herrschte jedoch Einigkeit: Die Digitalisierung der deutschen Industrie ist Chefsache. Das hat auch die vom Bitkom initiierte Umfrage unter den Entscheidern deutscher Produktionsbetriebe ergeben: In fast 80 Prozent kümmert sich die Geschäftsführung um das Thema – es hat also die notwendige Priorität auf der Agenda der deutschen Industrie erlangt. Das ist die gute Nachricht.

Meine Gespräche und Diskussionen in Hannover haben aber auch gezeigt, dass es vielfach noch der notwendigen Investitionsbereitschaft in die Infrastruktur und an eine lebendige Vision für Industrie 4.0 mit all ihren Möglichkeiten mangelt. An beiden Stellen hat die deutsche Wirtschaft noch großen Nachholbedarf. Viele Verantwortliche in deutschen Unternehmen verstehen unter Industrie 4.0 immer noch ausschließlich die Optimierung der Produktion und die Erweiterung bestehender Produkte um digitale Features. Damit aber greifen sie zu kurz. Es ist nicht visionär, das von Menschen gesteuerte Auto um einen digitalen Fahrassistenten zu bereichern, wie es die Automobilhersteller derzeit entwickeln und testen. Visionär ist es etwa zu sagen, dass in einigen Jahrzehnten dem Menschen per Gesetz verboten wird, sein Auto selbst zu fahren, weil es zu gefährlich ist.

Die Diskussion in Deutschland dreht sich beim autonomen Fahren derzeit sehr stark um die rechtlichen Grundlagen und die Zuverlässigkeit der digitalen Systeme auf den Straßen und Autobahnen. Wie anfällig ist die Technik? Kann die menschliche Entscheidungsfähigkeit erreicht werden? Wer ist wann haftbar? Diese Fragen sind durchaus exemplarisch für den gesamten Diskurs zur Digitalisierung unserer Wirtschaft. Wir fokussieren uns sehr stark auf die kurzfristigen Herausforderungen und Nahziele. Das ist erstmal nicht zu beanstanden, schließlich gilt es, den wirtschaftlichen Erfolg unserer Unternehmungen heute zu erhalten. Allerdings müssen wir gleichzeitig auf den nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg schauen – und hier sieht es kritisch aus. Die deutsche Wirtschaft spricht zwar viel über Konzepte zu Industrie 4.0, investieren will sie jedoch nicht: Die Statistiken zeigen derzeit keine steigenden Investitionen in die Produktionsanlagen und -ausrüstungen.

Die Gründe dafür sind vielfältig. So braucht man zum Investieren Kapital und das hat nicht jeder – trotz scheinbar guter Zinskonditionen und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen. Da es sich bei Industrie 4.0 um die Erneuerung im laufenden Betrieb handelt, müssen Abschreibungszeiträume und Kontinuität in den Produktionsabläufen beachtet werden. Und schließlich weiß trotz oder wegen der andauernden Grundsatzdiskussionen keiner genau, welche Investitionen erfolgversprechend sein werden.

Doch klar ist: Nur solche Unternehmen bewirken die nötigen Veränderungen und Weiterentwicklungen durch die Digitalisierung, die den Markt konsequent von den zukünftigen technischen Möglichkeiten her betrachten. Bleiben wir bei unserem Auto-Beispiel: Heute gibt es keine digitalen Systeme, die vollständig autonomes und sicheres Fahren ermöglichen. Grundsätzlich aber ist die Informationstechnik fähig, dies zu erreichen. Wenn wir an die Erreichbarkeit glauben, dann ist es visionär, frühzeitig in dieses Ziel zu investieren.

Ein Umdenken ist also an der Zeit, um das weltumspannende Projekt “Industrie 4.0” erfolgreich voranzubringen und Deutschland auch bei der Digitalisierung in eine Pole Position zu bringen: Wir müssen vom theoretisch Machbaren ausgehen, mittel- bis langfristige Ziele definieren und den erforderlichen Investitionen mehr Platz einräumen als bislang. Vieles wie beispielsweise Predicitve Maintenance, also die vorausschauende Planung von Wartungsmaßnahmen ist bereits heute einsetzbar. Es geht bei Industrie 4.0 um unternehmerische Weitsicht und visionäre Entscheidungen und um den Mut, die damit einhergehenden Risiken und Chancen anzuerkennen. Vor diesem Hintergrund ist es doch ein sehr gutes Zeichen, dass das Thema Digitalisierung nun zur Chefsache in Deutschland geworden ist.

Andre Borbe

Andre ist Jahrgang 1983 und unterstützte von September 2013 bis September 2015 die Redaktion von silicon.de als Volontär. Erste Erfahrungen sammelte er als Werkstudent in den Redaktionen von GMX und web.de. Anschließend absolvierte er ein redaktionelles Praktikum bei Weka Media Publishing. Andre hat erfolgreich ein Studium in politischen Wissenschaften an der Hochschule für Politik in München abgeschlossen. Privat interessiert er sich für Sport, Filme und Computerspiele. Aber die größte Leidenschaft ist die Fotografie.

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