Telemedizin birgt große Potenziale, aber auch Herausforderungen

Dank der zahlreichen, nachweisbaren Vorteile erlebt die Telemedizin – die Bereitstellung medizinischer Services über Breitbandvideokonferenz-Technologie – momentan einen Boom. Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 stieg die Anzahl der Einsätze zwischen 2015 und 2017 um 261 Prozent. Auch in Deutschland nimmt die Nutzung von Telemedizin zu. Zum Beispiel schlossen sich Ende 2019 weitere Universitätskliniken dem Teleradiologie-Netzwerk an und in NRW gibt es die Absicht, das Telenotarzt-System flächendeckend auszubauen. Laut ersten Ergebnissen des Innovationsprojekts TELnet@NRW ist die Akzeptanz für den Einsatz von Telemedizin hoch: 88 Prozent der niedergelassenen Ärzte sagen, dass durch Telemedizin eine bessere Behandlung möglich ist. Gleichzeitig gibt es noch einige Hürden, die ein schnelle Wachstum verhindern.

Mehrwert für Ärzte, Patienten und die Gesundheitsbranche gleichermaßen

Es gibt zahlreiche Gründe, warum Telemedizin immer öfter akzeptiert wird. Die Vorteile können in fünf Kategorien eingeteilt werden:

• Remote-Pflege: Der offensichtlichste Vorteil der Telemedizin liegt in der Möglichkeit, Personen in abgelegenen Orten zu unterstützen – Arztbesuche für die einfache Grundversorgung würden hier mehrere Stunden Reisezeit in Anspruch nehmen. In diesem Bereich könnte sich die Telemedizin bereits bewähren. Die Regierung von Western Australia (WA) sparte 2018 beispielsweise den Patienten der Region mithilfe der Telemedizin über 23 Millionen Kilometer an Reise für Arztbesuche. Neben Zeit- und Kosteneinsparungen unterstützt Telemedizin darüber hinaus Ärzte bei der Pflege von Patienten in ländlichen Gegenden ohne Zugang zu einem Transportnetz.

• Unterstützung durch Experten: Per Telemedizin können Spezialisten für bestimmte Fachgebiete ihre Kollegen in Kliniken und Krankenhäusern unterstützen, in denen für das Gebiet aktuell kein passender Experte verfügbar ist. Die Mayo Clinic unterhält beispielsweise ein Telemedizin-Programm, das es erfahrenen Neonatologen ermöglicht, Pflege-Teams in regionalen Krankenhäusern bei der Behandlung neonataler Notfälle zu unterstützen.

• Patientenfreundlich: Darüber hinaus bietet Telemedizin Vorteile für Patienten, die eine einfache Grundversorgung benötigen. Video-Sprechzeiten nehmen weniger Zeit in Anspruch als normale Praxissprechstunden (inklusive Anreise- und Wartezeit). Dies kommt besonders Patienten entgegen, die tagsüber arbeiten – und auch der Arbeitgeber profitiert in Sachen Produktivität.

• Effizienz: In Verbindung mit anderen Technologien kann die Telemedizin die Produktivität aller verbessern, die in die Patientenpflege involviert sind. Zum Beispiel: Ein KI-basiertes Entscheidungssystem zur Überwachung von Patienten, die zuhause Kontrollgeräte im Einsatz haben, identifiziert diejenigen, die Unterstützung benötigen.

• Fachkräftemangel: Laut der Association of American Medical Colleges werden alleine in den USA bis 2032 bis zu 122.000 Mediziner fehlen – denn die Nachfrage nach Medizinern steigt schneller als Nachwuchs folgt. Das gilt auch für Deutschland, besonders für Hausärzte. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung KBV prognostiziert bis 2030 einen Verlust von über 10.000 Hausärzten. Die oben genannten Effizienzsteigerungen könnten die Lösung dieser Herausforderung sein. Mehr Effizienz führt darüber hinaus zu weniger Kosten, ebenfalls eine Herausforderung des Gesundheitssystems in Deutschland.

Regularien behindern großflächige Einführung

Die Vorteile der Telemedizin liegen auf der Hand. Warum setzen also fast 85 Prozent der medizinischen Einrichtungen aktuell die Technologie nicht ein? Die größte Hürde bilden hierbei die nötigen Regularien. Dabei geht es weniger darum, dass die Politik und Richtlinien der Regierungen die Telemedizin ablehnen – vielmehr handelt es sich um ein sehr komplexes und oftmals schwer navigierbares Thema.

Die rechtlichen Voraussetzungen sind dabei eigentlich bereits weitgehend geschaffen worden. Bis 2018 war die größte Hürde die Musterberufsordnung der deutschen Ärzte und Ärztinnen, die eine ausschließliche Fernbehandlung grundsätzlich untersagte. Nach der Änderung des betreffenden Absatzes dürfen Ärzte mittlerweile Kommunikationsmedien zur Unterstützung verwenden. Zu beachten gilt dabei vor allem die Aufklärung über (Un-)Sicherheit und (Un-)Nutzen von Telemedizin und einer persönlichen Untersuchung sowie die Einwilligung des Patienten – auch zur Datenverarbeitung im Sinne des Datenschutzes.

Die Rückerstattung ist eine weitere Hürde für Mediziner. Bisher übernehmen die deutschen Versicherungen telemedizinische Dienstleistungen nur in wenigen Fällen, da sie nicht im Leistungskatalog der Krankenkassen enthalten sind. Generell gibt es nur wenige Vergütungsregeln und telemedizinische Leistungen werden aus unterschiedlichen Quellen finanziert, wie Privatfinanzierung, durch Fördermittel oder durch individuelle Vereinbarungen gesetzlicher Krankenkassen. Die ungeklärte Finanzierung der Telemedizin ist mit eine der größten Barrieren.

Letztlich spielen auch Faktoren wie fehlendes Wissen über die Technologie, die Notwendigkeit, Routinen zu verändern und generell die Neuheit von Telemedizin eine Rolle und beeinflussen die Mediziner. Patienten auf der anderen Seite könnten sich von Telemedizin abgeschreckt fühlen, da ihnen der persönliche Kontakt zum Arzt fehlt. Zudem müssen sich Patienten über die Kostenrückerstattung ebensolche Sorgen machen wie die Anbieter.
Neben aller regulatorischen und menschlichen Bedenken werden Mediziner und Patienten gleichermaßen von der Verfügbarkeit einer adäquaten Bandbreite abgeschreckt. Gerade in abgeschiedenen Gebieten, wo die Telemedizin am dringendsten benötigt wird, ist dies oftmals ein Problem. Sicherheitsprobleme mit regulatorischer Compliance – insbesondere mit HIPAA – und die Notwendigkeit für den Schutz gegen Cyber-Kriminalität, verlangsamen die Einführungen ebenfalls.

Langsamer, aber stetiger Prozess

Mit der Zeit werden die Vorteile der Telemedizin sowohl die medizinische Community als auf Staat- und Landesregierungen dazu motivieren, die Herausforderungen anzugehen. Telemedizin wird sicherlich nicht über Nacht zu einem zentralen Aspekt des Gesundheitswesens, aber es wird sich langsam dorthin entwickeln.

Redaktion

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