Vor kurzem traf ich einen alten Freund beim Japaner. Nach der ersten Runde Sashimi schwelgten wir in Erinnerungen an gemeinsame berufliche Anfänge mit Lotus Notes, um dann ernüchtert festzustellen, dass wir beide unabhängig voneinander zu der Einschätzung gekommen waren: IBM hat wohl an Lotus kein Interesse mehr.

Jedem von uns fielen gleich ein halbes Dutzend Fälle aus der DACH-Region ein, in denen Lotus Engagements ohne Not verloren gegangen waren. Ursache dafür war unseres Erachtens nicht etwa die Technik oder die Wirtschaftlichkeit, sondern die fehlende Zuversicht der Unternehmen in die Zukunft der Plattform Domino. Wir fragten uns, ob es denn Absicht sein kann, dass sich IBM derzeit anscheinend alle Mühe gibt, den Markennamen Lotus verschwinden zu lassen bzw. abzulösen. Nach dem Name-Change von IBM Sametime, IBM Connections und IBM Forms werden neue Produkte auf Basis von Lotus-Technologie gleich unter dem IBM Logo angeboten, z.B. der IBM XWork Server. Auch der Marketing-Fixstern, die Lotusphere wird gerade von dem Beiboot “IBM Connect 2012” rechts außen überholt – zumindest wenn man das werbliche Engagement betrachtet.

Bei einem grünen Tee zerbrachen wir uns also weiter den Kopf darüber, warum einer der weltgrößten IT-Hersteller in eine so weit verbreiteten Plattformen anscheinend nicht mehr investieren will. Wieso wird die Plattform erst Web 2.0, Social-Computing und Cloud-fähig gemacht, um sie dann in der eigenen Vermarktung zu vernachlässigen?

Eine schnelle Anwendungsentwicklung, hohe Skalierbarkeit und vor allem das Preis/Leistungsverhältnis von Lotus Notes & Domino sind unseres Erachtens nach wie vor unvergleichlich und für kleine und mittlere Firmen ideal – auch wenn IBM vordringlich die Global Player bedient. Eine mögliche Erklärung fanden wir dann in der Preispolitik.

Bieten die Lotus Produkte vielleicht zu viel “Wert” für einen zu kleinen Preis beziehungsweise zu wenig Marge “out of the box”? Oder, wie von meinem Freund etwas ketzerisch vermutet: an Stelle eines Domino-Servers, der alle Internet-Protokolle gleich mitbringt, kann man auch ein halbes Dutzend Websphere-Server verkaufen und den Service gleich mit dazu. Vor dieser Motivation machte es für uns durchaus Sinn, dass IBM alle innovativen Lotus-Produkte, die auf Websphere basieren, neu herausbrachte: Sametime, Quickr und Connections. Ist Lotus etwa zum “ungeliebten Kind” von IBM geworden, dass durch genügend Marktabdeckung und mangels ausreichender Wachstumschancen am eigenen Erfolg zugrunde geht?

Setzt IBM jetzt lieber auf qualitatives Wachstum und versucht das Rad unter Websphere neu zu erfinden? Fragen über Fragen, auf die nicht nur ich sondern auch Teile unserer Kunden dringend eine Antwort brauchen. Denn die haben aufgrund des geschilderten Eindrucks schon mehrmals die Beziehung aufgekündigt und sind lieber zur Konkurrenz gegangen. Wir haben viele Wechsel begleitet und bei den mühsamen Gehversuchen auf neuem Terrain geholfen. Die wenigsten bezogen sich dabei allerdings auf die schöne neue Websphere-Welt.

Ich werde jetzt als nächstes der Sache vor Ort auf den Grund gehen und besuche die Lotusphere. Ob ich dann alle wichtigen Antworten parat haben werde, mein Eindruck stimmt, ich eines besseren belehrt wurde oder mich schlicht und einfach mit der Restaurantkritik des Japaners beschäftige, verrate ich Ihnen nach der Lotusphere 2012 hier in meinem Blog.

Silicon-Redaktion

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  • Aus der Marke Lotus ist die Luft raus!
    Echte Innovationen hat man von Lotus schon lange nicht mehr gesehen.
    Da ist der Rückzug auf die "Hausmarke" nachvollziehbar.
    Am Markt hilft das aber auch nicht.
    Regards
    John

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