Die lange Krankenakte der Gesundheitskarte

Die Erfahrungen aus TollCollect und Herkules haben uns gelehrt, bundesweite IT-Projekte mit Skepsis zu beäugen. Auch die Gesundheitskarte hinkt ihrem ursprünglichen Zeitplan hinter – wann der offizielle Startschuss fällt, kann niemand genau sagen.

Dennoch könnte sich die Frage der Verantwortlichkeiten noch als großer Bremsklotz erweisen, im schlimmsten Fall zu einem Schwarzer-Peter-Spiel führen. “Das Gesundheitsministerium hat durch die Ersatzvornahmen ein hohes Maß Verantwortung für die technische Ausstattung übernommen, hier ist eine enge und vertrauensvolle Kooperation mit der Gematik notwendig”, sagt Mentzinis. Ersatzvornahme bezeichnet die Rechtsverordnung über die Testmaßnahmen für die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte.

Doch nicht nur die wiederholten Zeitverzögerungen, auch das Thema Geld sorgt immer wieder für – negative – Schlagzeilen. Wie Mitte September durchsickerte, soll eine Kosten-Nutzen-Analyse von Booz Allen Hamilton ergeben haben, dass die Gesundheitskarte alles in allem drei Mal so teuer wird wie ursprünglich angenommen. Demnach rechnen die Berater mit 3,9 Milliarden Euro – möglicherweise werde das Lieblingsprojekt der Ministerin sogar sieben Milliarden Euro kosten.

Aus dem Ministerium hieß es dazu, die Studie habe mit falschen, überhöhten Zahlen gearbeitet und werde derzeit neu erstellt. Auch der Branchenverband Bitkom warnt vor einer vorschnellen Verurteilung und warnt ebenfalls vor unvollständigen Annahmen und Zahlen. “Daraus ergeben sich verzerrte Schlussfolgerungen”, sagt Bitkom-Präsident Wili Berchtold. Schon deshalb dürfe die Studie nicht instrumentalisiert werden.

Und während auf organisatorischer Ebene immer wieder zu mehr Eile angetrieben wird, haben es diejenigen, die es eigentlich betrifft, offenbar gar nicht so eilig, etwas zu ändern. Denn den Ärzten bringt die Gesundheitskarte vor allem in der Anfangsphase hauptsächlich Unannehmlichkeiten und Kosten. Das prophezeite Einsparpotential von insgesamt jährlich mehreren hundert Millionen Euro scheint im Vergleich dazu in weiter Ferne. 

Die Skepsis der Ärzte

Manche Experten mahnen gar, dass die Gesundheitskarte an den Ärzten scheitern könnte, wenn nicht nachgebessert wird. Vor allem die Ausstellung von elektronischen Rezepten müsse viel schneller klappen, sonst werde der Praxisbetrieb unnötig aufgehalten, so Kritiker. Fühlt sich ein Arzt von der Technik ausgebremst, könnte er schnell zum guten, alten Papierrezept greifen – für den Fall eines elektronischen Defekts muss es schließlich ohnehin weiter gültig sein. Fassbinder spricht deshalb von Motivationsprogrammen, die dabei helfen könnten, den Roll-out der Gesundheitskarte nach erfolgreich abgeschlossener Testphase voranzutreiben. Denkbar sei beispielsweise eine Transaktionsgebühr pro Rezept, das vom Arzt über das neue System abgerechnet wird. 

Man ahnt es schon: Neben den technischen Herausforderungen treibt auch das Thema Geld viele Ärzte um. 140.000 Arztpraxen, 55.000 Zahnärzte, 22.000 Apotheken und 2200 Kliniken benötigen neue Kartenlesegeräte, neue Software, einen Konnektor und einen elektronischen Heilberufsausweis, der Zugriff auf die neue Gesundheitswelt im Netz bietet. Vor dem Hintergrund, dass die IT-Ausrüstung vieler Arztpraxen an sich bereits veraltet ist, kommen hier Investitionen von jeweils 2000 bis 10.000 Euro auf die Praxen zu.

“Insgesamt kostet eine Testregion zwischen 2 und 4 Millionen Euro – wer das aber zahlen soll, ist bislang noch offen”, sagt Elmar Fassbinder von Giesecke und Devrient, der vor allem auf die Kosten für die Online-Tests verweist. Und Fraunhofer-Experte Causmann ergänzt: “Finanzieren wird das Ganze der Bürger müssen – ob in seiner Rolle als Steuerzahler oder als Krankenversicherter, ist noch offen.”

Nicht zu verachten ist auch das Thema Datenschutz. Das Gesundheitsministerium hat den Patienten vollmundig versprochen, dass sie die alleinige Kontrolle über ihre Patientenakte behalten werden. Soll heißen, jeder Patient soll Diagnosen oder Medikamente löschen können, die er als peinlich empfindet. Da ein Arzt jedoch nur mit ungeschönten Befunden zuverlässig arbeiten kann, besteht hier ein bisher ungelöster Interessenskonflikt. Der spielt zwischen den großen Themen Geld und Zeitplan eine – noch – ziemlich untergeordnete Rolle.

Sicher scheint bislang nur, dass Deutschland bei einem IT-Projekt, dass von der Politik – diesmal vom Gesundheitsministerium – wieder mal zur Prestigesache ausgerufen wurde, gewaltig hinterherhinkt. Auch Bitkom-Präsident Jörg Menno Harms verliert inzwischen die Geduld. “Während viele Länder längst entsprechende Projekte gestartet haben, wird die Gesundheitskarte hier zu Lande zugrunde geredet.