Realität: Prothese wird über Gedanken gesteuert

“Dieses Projekt kann zurecht als Sensation bezeichnet werden”, sagt Hans Dietl, Geschäftsführer Otto Bock Healthcare Products. Die neuartige Armprothese bedeute einen enormen Fortschritt gegenüber der konventionellen Prothesenversorgung. “Das Einzigartige bei der intelligenten Prothese ist, dass jene Nerven zur Steuerung verwendet werden, die auch bei intakten Armen für die Bewegungen zuständig sind”, so Dietl.

Während eine herkömmliche Prothese drei Freiheitsgrade aufweist, bietet die neue Prothese sieben Freiheitsgrade beziehungsweise Gelenke, die dem Träger deutlich mehr Aktionsmöglichkeiten geben. Der europaweit erste Patient mit der intelligenten Prothese ist der Österreicher Christian Kandlbauer. Der 20-Jährige verlor vor zwei Jahren infolge eines Starkstromunfalls beide Arme. “Kandlbauer war aufgrund der Schwere seiner Verletzungen, seines jungen Alters sowie seiner hohen Motivation der ideale Patient für dieses Projekt”, erklärt Manfred Frey, Leiter der Klinischen Abteilung für Plastische und Rekonstruktive Chirurgie am Wiener AKH.

Im Dezember 2006 führte Frey in einer sechsstündigen Operation den nötigen Eingriff durch, wobei Nerven verlagert wurden. Durch diesen sogenannten selektiven Nerventransfer können die Signale, die auch ursprünglich für die Steuerung des Arms verantwortlich waren, für die Steuerung der Prothese genutzt werden, erläutert der Mediziner. Die Enden der verbliebenen Armnerven werden dabei mit der Muskulatur im Brustbereich verbunden. Die Brustmuskeln werden sozusagen als Verstärker der Nervenimpulse genutzt. Im Prothesenschaft sind wiederum Elektroden eingearbeitet, die diese Steuersignale aufnehmen. Ein komplexes elektronisches Analyseverfahren im Inneren der Prothese setzt die empfangenen Signale um und erkennt die gewünschte Bewegung.

Im Gegensatz zu herkömmlichen Prothesen erfolgt die Steuerung nicht über bewusste Muskel-Steuerimpulse, die der Träger erst erlernen muss. “Mit unserer neuen Prothese muss sich der Patient lediglich die Bewegung mit dem nicht mehr vorhandenen Arm im dreidimensionalen Raum vorstellen. Die Prothese selbst setzt die Bewegung schließlich um. Die Steuerung ist für den Anwender intuitiv und einfach zu erlernen”, so Dietl. “Für mich ist es eine unglaubliche Verbesserung”, sagt Kandlbauer. “Bislang habe ich bei jeder alltäglichen Tätigkeit Hilfe benötigt, nun kann ich nahezu alles wieder selbständig machen.” Der vor seinem Unfall als Automechaniker beschäftigte Kandlbauer ist Anfang November sogar wieder an seine Arbeitsstelle zurückgekehrt und arbeitet nun in der Lagerverwaltung.

Kandlbauer ist derzeit der einzige Patient in Europa mit dieser neuartigen Prothese. In den USA läuft ein weiteres Projekt mit sieben Patienten. Die Prothese selbst ist noch ein Laborgerät und daher auch noch nicht vollständig alltagstauglich, schränkt Dietl ein. Kandlbauer zeigte in Wien jedoch, dass er das Gerät bereits gut beherrscht. Wie der junge Österreicher vor Journalisten demonstrierte, laufen die Bewegungen der Hightech-Prothese flüssig ab. Ablauf und Geräusche erinnern an Science-Fiction-Visionen.

Dietl geht davon aus, dass die Serienreife des Produkts in etwa drei Jahren erreicht ist. Mittlerweile flossen etwa fünf bis sechs Millionen Euro in das Projekt. Zu den Kosten für den einzelnen Patienten konnte Dietl keine genauen Angaben machen, beziffert sie jedoch grob mit einem “hohem fünfstelligen Betrag”. Vorerst ist die neuartige Prothese für Patienten gedacht, die beide Arme verloren haben. “Hier ist die Steigerung an Lebensqualität am größten. Jede ermöglichte zusätzliche Bewegung ist ein Gewinn”, sagt Frey.

Silicon-Redaktion

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