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Geisterstädte

Gespannte Ungewissheit herrscht, wenn der Fremde sie betritt. Was ist aus den Leuten geworden, die hier einmal für quirliges Leben sorgten?

Frische Spuren zeugen noch davon. Sowas ist ja immer besonders gespenstisch: menschliche Spuren an einem menschenleeren Ort.

Vielleicht locht der Ticker des Telegrafenamts noch Nachrichten in die zuende gehende Papierrolle. Und ein Schild an der Tür des Krämerladens verspricht, so als sei es vor ein paar Minuten erst aufgehängt worden: “Komme gleich wieder.”

Was ist passiert? Das regt die Phantasie an! War’s eine geheimnisvolle Seuche? Oder wurde die Stadt verlassen, weil man irgendwo anders Gold gefunden hat?

Das ist der spannende Part eines Western. Bis dann der tote Hufschmied, durchlöchert von Pfeilen, dem Fremden vor die Füße fällt. Dann weiß man: Die Apachen waren’s.

Und ab hier wird’s im Film langweilig. Indianerprobleme werden in Western schließlich immer auf die gleiche Weise – mit dem Trommelrevolver, der Winchester oder der Kavallerie – gelöst. Aber die Szene mit der Geisterstadt, die ist immer spannend.

So eine Geisterstätte im Cyberspace ist der US Internet Council. Gespenstisch spuckt auf der Homepage noch immer der News-Ticker aktuelle Nachrichten aus – gespeist von einem externen Dienst. Im Web gibt’s ja keine Papierrollen, die zuende gehen könnten.

Und auf der Seite “Upcoming Events” wird angekündigt: “US Internet Council CEO… will moderate a debate… Date: September 22, 2000”. So als wär’s gerade erst ins Netz gestellt worden.

Wieder fragt man sich: Was ist passiert? Die Apachen waren’s nicht. Die haben ja längst die Masern und das Feuerwasser aus den Destillerien des weißen Mannes dahingerafft. Nein, die Goldgräber haben den Ort aufgegeben und sind weitergezogen.

Der US Internet Council hat in der Pionierzeit für ein paar Jahre den viel beachteten Report “State of the Internet” herausgebracht. Das hat die Leute damals elektrisiert.

Mittlerweile aber schon lange nicht mehr. Deshalb wohl ist usic.org aufgegeben worden. Und wieder fragt man sich: Was ist passiert?

Die Antwort findet man in einer weiteren Geisterstadt. Die heißt Leinfelden-Echterdingen. Und die Eingeborenen sind Fremden gegenüber mindestens so ablehnend wie weiland die Apachen. Wenn auch nicht aus vergleichbar guten Gründen. Dort erfährt man alles, was man heute zum “State of the Internet” wissen muss.

LE existiert – ähnlich wie Web-Sites – rein virtuell. In Baden-Württemberg. Die Gebietsreform von 1975 hat sie seinerzeit aus diversen Weilern und Dörfern zusammengeclustert.

“Virtuell” heißt “wirkt wie…”. Aber auf real urbane Menschen wirkt Leinfelden-Echterdingen überhaupt nicht wie eine Stadt. Eher fühlt man sich bei den gesellschaftlichen Ereignissen in dieser virtuellen Stadt an die Gebräuche irgendwelcher indigenen Völker, beispielsweise der Apachen, erinnert.

Den Höhepunkt im Jahresverlauf der Leinfelder, Echterdinger, Musberger und Stettener etwa stellt das sogenannte Krautfest dar. Das lokale Thanksgiving. Im Verlauf dessen vergnügen sich die Einheimischen – ausweislich ihrer Web-Site – bei so seltsam anmutenden Riten wie Krauthobeln und -dosenwerfen.

Am Wochenende war’s mal wieder soweit. “www.krautfest-LE.de” heißt die URL.

“Das ist wieder typisch für die Echterdinger Inzuchtsköpf. Bringet selber nix auf der Weg aber goschet emmer bei de andere rom”, steht im Gästebuch der Site. Und wohl deswegen gibt’s auch eine Alternativ-Adresse für besagten Event: “www.filderkrautfest.de“.

Und nicht nur das. 2.660.000 Treffer innerhalb von nur 0,19 Sekunden listet Google bei “Leinfelden-Echterdingen”. Und immerhin 1.650.000 beim übergeordneten Suchbegriff “ghost town”.

Und deswegen braucht’s auch keinen Report zum Thema “State of the Internet” mehr. Das Internet ist ubiquitär – überall. Auch in den trostlosesten Geisterstädten.

Silicon-Redaktion

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