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Die lange Krankenakte der Gesundheitskarte

“Natürlich hat die Gesundheitskarte das Potential für eine IT-Katastrophe”, sagt Jörg Caumanns vom Fraunhofer Institut für Software und Systemtechnik. “Es sind viele verschiedene Unternehmen und Organisationen beteiligt und es ist nicht so, dass die Technik einfach nur zusammengefügt werden muss. Zudem war der Zeitplan von Anfang an vor allem politisch motiviert und nicht realistisch.”

Caumanns gehört nicht zu den besonders pessimistischen Stimmen, wenn man sich zum Thema Gesundheitskarte umhört – es ist nur so, dass kaum jemand mehr Grund für Optimismus sieht. Denn die Fakten sprechen nicht für das Projekt, das in vielen Fällen gar nichts dafür kann. Grund ist vielmehr, dass jetzt notfalls mit Gewalt passend gemacht werden soll, was sich bislang in völlig getrennten Welten bewegte – politisch und medizinisch.

Probleme wirft hier nicht nur einmal mehr das föderale Politiksystem Deutschlands auf, sondern auch die zerklüftete, medizinische Landschaft, in der von der Landarztpraxis über Apotheken bis zur Uniklinik bislang nahezu jeder sein eigenes IT-Süppchen gekocht hat.

Mangel an Vorbildern

“Das Problem sind in erster Linie Sicherheits- und Datenschutzanforderungen. In Dänemark, das immer gerne als Vorbild herangezogen wird, sind die Sicherheits- und Datenschutzanforderungen ganz anders”, sagt Caumanns. “Dort wird mehr auf Vertrauen gesetzt, bei uns dagegen auf Kontrolle.”

Ähnlich äußerte sich auch Elmar Fassbinder, der bei Giesecke & Devrient – potentieller Lieferant von Kartenlösungen – den Bereich Gesundheitswesen verantwortet, gegenüber silicon.de. “Viele Dinge, die nichts mit Politik zu tun haben, müssen eigentlich auch nicht politisch diskutiert werden, zum Beispiel ob Rezepte auf dem Server und auf der Karte gespeichert werden oder nicht.” Solche Debatten hätten lediglich einen Entscheidungsstau zur Folge.

Vor allem mangelt es derzeit noch an der Online-Anbindung. “Wir arbeiten an der Erstellung und Erweiterung der Spezifikation für die Online-Szenarien”, sagte uns Dirk Drees, Geschäftsführer der Gematik (Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH), wo die organisatorischen Fäden für die Gesundheitskarte zusammenlaufen. Doch bei den Probeläufen, die voraussichtlich Anfang nächsten Jahres starten werden, spielt das Online-Thema zunächst eine untergeordnete Rolle. Schließlich handelt es sich beim Test erst einmal um ein reines Offline-Szenario.

Diese ersten Tests mit Patienten wurden inzwischen auf Anfang 2007 verschoben – bei dem Feldversuch mit jeweils 10.000 Versicherten in unterschiedlichen Regionen werden die so genannten sicct-Terminals (Secure Interoperable ChipCard Terminal) getestet. Hinter sicct verbirgt sich der Standard für neue Terminals, die an den Konnektor angeschlossen werden. Dieser Konnektor bildet die VPN-Schnittstelle zum Internet. Die Terminals arbeiten anfangs nur im Offline-Betrieb und können dann später Schritt für Schritt aufgerüstet werden.

Altruismus statt Egoismus

“Es gibt zwei wesentliche Änderungen”, sagt Giesecke-Experte Elmar Fassbinder. “Erstens: Die Einführung der digitalen Signatur, die eine dramatische Änderung der Prozesse – insbesondere bei den niedergelassenen Ärzten – nach sich zieht. Zweitens: Die Vernetzung im Gesundheitswesen, das heißt insbesondere der Leistungsbringer untereinander.” Die Gematik leistet seiner Meinung nach gute Arbeit, hat jedoch eine schwierige Aufgabe. “In der Spezifikationsphase benötigt man statt Egoismus vor allem eine große Portion Altruismus.”

Einen weiteren Zeitverlust durch zusätzliches Gezerre in der Spezifikationsphase ist allerdings das letzte, was die Gesundheitskarte jetzt brauchen kann. “Leider haben wir bisher viel Zeit damit verloren, dass sieben verschiedene Einrichtungen und Organisationen in verschiedenen Projekten an den Standards für die elektronische Gesundheitskarte gearbeitet haben”, sagt Pablo Mentzinis, der das Thema Gesundheitskarte beim Branchenverband Bitkom betreut. Seit rund 18 Monaten hat nun die Gematik die Zügel in der Hand und das hat – da sind sich die Experten einig – so einiges verbessert.

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Silicon-Redaktion

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