Vom vernetzten Auto zum vernetzten Verkehrsteilnehmer

“Bei 50 Prozent der Unfälle mit Fußgängern hätten die Autofahrer die Fußgänger sehen können – mit Unterstützung von Kameras und Sensoren wären diese Unfälle niemals passiert”, betont Thomas Herpich. Er ist bei TRW Automotive für die funktionale Integration von Sicherheitssensoren in Pkws zuständig. Allerdings muss er einschränken, dass die technische Umsetzung nicht so einfach ist, wie das Konzept zunächst klingt.

Im Rahmen des Forschungsprojektes “Kooperative Transponder (Ko-TAG)” haben Wissenschaftler der TU München ein funkbasierendes Ortungssystem entwickelt, dass Fußgänger und Radfahrer selbst dann orten kann, wenn sie durch Hindernisse verdeckt sind (Bild: TU München).

Volker Schindler, Professor an der Technischen Universität Berlin im Fachgebiet Kraftfahrzeuge, erläutert, dass “Kameras und Sensoren Bilder und Daten von außen liefern”. Anhand dieser Informationen errechne das Fahrzeug ständig ein Modell der Umgebung. “Außerdem muss das Fahrzeug so etwas wie ein Bild von sich selbst erzeugen, das sich innerhalb dieses Modells bewegt.” Erst dann könne es Fußgänger oder Fahrradfahrer nicht nur erkennen, sondern auch deren Bewegungen nachvollziehen und vor einem möglichen Crash warnen.

Während Kameras immer nur die Menschen innerhalb ihres eigenen Blickfeldes sehen und berechnen, denken die Forscher schon einige Schritte weiter: Um Fußgänger und Radfahrer für die Bordcomputer der Autos sichtbar zu machen, könnten sie mit eigenen Sendern ausgestattet werden. Die Fahrzeug würden sie dann wahrnehmen und in das Modell der Umgebung einbeziehen – selbst dann, wenn sie für Kameras unsichtbar hinter anderen Autos fahren oder zwischen parkenden Fahrzeugen stehen.

So wenden sich Forschungseinrichtungen oder Autohersteller der Frage zu, wie sie Fußgänger mit Sendern ausstatten könnten. Eine Möglichkeit seien RFID-Chips in der Kleidung. Dies ist heute schon Alltag, denn viele Bekleidungshersteller lassen RFID-Chips in ihre Produkte einnähen. Die Daten aus diesen Chips nutzen sie vor allem für Logistik und Warenauslage in den Läden.

Der Vorteil: RFID-Chips senden ihre Informationen über eine Distanz von mehreren Metern. Für die Sensoren der Fahrzeuge könnte ein Signal aus einem RFID-Chip ein eindeutiger Hinweis darauf sein, dass sich ein Fußgänger in Richtung Straße bewegt, der für Fahrer und Kamera von einem anderen Fahrzeug verdeckt wird. Kritiker weisen allerdings darauf hin, dass schon ein RFID-Chip in der Kleidung einen massiven Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung eines Menschen darstellt.

Auch für selbstlenkende Fahrzeuge, wie hier einen Prototyp von Google, ist die zuverlässige Erkennung von anderen, nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern unabdingbar (Bild: Google).

Einen anderen Weg gehen Forscher der Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik an der Technischen Universität München. Sie haben ein Verfahren entwickelt, das Mobiltelefone als Transponder nutzt. Das Ortungssystem des Autos empfängt die Signale aus den Transpondern und berechnet anhand dieser Daten eine “Bewegungsbahn” voraus. “Sie erkennen, ob sich Fußgänger oder Radfahrer direkt vor das Auto bewegen und leiten notfalls eine Vollbremsung ein”, erklärt Erwin Biebl, Professor an der Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik.

Im Rahmen ihrer Forschungsarbeit sei es den Wissenschaftlern gelungen, die Messfehler bis auf wenige Pikosekunden – also Billionstel Sekunden – zu reduzieren. “Wir erreichen für die Abstandsmessung eine Genauigkeit von wenigen Zentimetern. Zusammen mit dem codebasierten Verfahren ist das der Grund für die außergewöhnliche Performanz und ein wesentliches Alleinstellungsmerkmal unseres Systems”, sagt Professor Biebl.

Allerdings gibt Klaus Kompass, Vice President Vehicle Safety bei BMW, eine wesentliche Schwäche der Systeme zu bedenken. “Wenn eine Warnung des Fahrzeuges kommt, heißt dass, das sich ein Fußgänger in der Nähe befindet. Der Rückschluss, dass bei keiner Warnung auch kein Fußgänger in der Nähe ist, ist allerdings falsch.” So sei die digitale Unterstützung immer nur für eine gezielte Steuerung der Aufmerksamkeit der Fahrer sinnvoll. Sie werde dem Fahrer nicht die Verantwortung für sein Auto abnehmen.

“Wir sollten immer bedenken, dass die Automobilindustrie keines dieser Aktionsfelder mit Erfolg alleine bearbeiten kann”, so Professor Schindler. “Es sind stets ein gesellschaftlicher Konsens und verlässliche Rahmenbedingungen erforderlich.” Hierzu sollten die Verantwortlichen seiner Ansicht nach Argumentation und Methodik verändern. Und sie müssten die in die Fahrzeuge eingebauten Hilfssysteme neu bewerten. “Die Kameras und Radarsysteme sind in die Autos eingebaut und werden vor allem für den Komfort der Insassen verwendet. Nun sollten wir sie aber auch für die Sicherheit benutzen.”

Andre Borbe

Andre ist Jahrgang 1983 und unterstützte von September 2013 bis September 2015 die Redaktion von silicon.de als Volontär. Erste Erfahrungen sammelte er als Werkstudent in den Redaktionen von GMX und web.de. Anschließend absolvierte er ein redaktionelles Praktikum bei Weka Media Publishing. Andre hat erfolgreich ein Studium in politischen Wissenschaften an der Hochschule für Politik in München abgeschlossen. Privat interessiert er sich für Sport, Filme und Computerspiele. Aber die größte Leidenschaft ist die Fotografie.

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