Massenentlassungen: Ende des IT-Fachkräftemangels?

Google, Amazon oder Meta kündigen tausenden Beschäftigten. Trotzdem ist keine Entspannung auf der Suche nach IT-Fachkräften in Sicht.

Nach den zahlreichen Ankündigungen von Entlassungen in der gesamten Tech-Branche kommen Führungskräfte in der Wirtschaft zu dem Schluss, dass der IT-Fachkräftemangel vorbei sein könnte. Doch der Schein trügt, denn die Nachfrage nach qualifizierten IT-Fachkräften übersteigt das Angebot weiterhin deutlich. In einer Gartner-Umfrage Ende 2022 sagten 86 Prozent der befragten CIOs, dass es weiterhin einen starken Wettbewerb  um qualifizierte Bewerber gibt. Ein Interview mit Mbula Schoen, Senior Director Analyst bei Gartner.

Frau Schoen, bedeuten all die Entlassungen, dass die Zeit des Fachkräftemangels in der IT vorbei ist?

Mbula Schoen: Die Knappheit qualifizierter Fachkräfte im Tech-Bereich ist noch lange nicht vorbei. Die derzeitige Nachfrage übersteigt das Angebot bei weitem. Wir gehen davon aus, dass dies bis mindestens 2026 der Fall sein wird, basierend auf den prognostizierten IT-Ausgaben.

Im Gegensatz zu dem, was wir in den Schlagzeilen lesen, sind viele der von Entlassungen betroffenen Menschen in Business-Funktionen und nicht in technischen Bereichen tätig. Darüber hinaus gibt es immer mehr IT-Jobangebote außerhalb der klassischen Technologieunternehmen.

Was sind denn die Gründe für die Entlassungswelle?

Viele der Stellenstreichungen der letzten Monate wurden von börsennotierten Unternehmen vorgenommen, um die Aktienkurse zu optimieren und den Forderungen der Aktionäre zu erfüllen, Kosten zu verringern. Die Entlassungen waren zudem eher eine Anpassung nach einer zu optimistischen Einstellungsphase. Eine Untersuchung von Gartner zeigt, dass die Unternehmen, die hinter den 10 größten Entlassungen im Tech-Bereich stehen, insgesamt immer noch über 150.000 Mitarbeiter mehr beschäftigen als zu Beginn des Jahres 2020. Die Daten zeigen auch, dass Neueinstellungen nicht unbedingt von der Kündigungswelle betroffen waren. 

Es ist also wichtig, dass Unternehmens- und IT-Führungskräfte die aktuelle Entlassungswelle nicht falsch interpretieren. Es wird wahrscheinlich weitere Schwankungen geben, da der Markt die wirtschaftlichen Turbulenzen, die laufenden Pandemie-Anpassungen und eine Verschiebung der Prioritäten bei den Qualifikationen bewältigen muss. Die Talentknappheit im Technologiesektor wird also noch lange nach Abklingen der aktuellen Turbulenzen anhalten.

Sollten CIOs als Reaktion auf die jüngsten Entlassungen ihre IT-Einstellungspläne anpassen?

Technische Führungskräfte, die das Wachstum durch Digitalisierung verantworten, müssen über die schlagzeilenträchtigen Entlassung-News hinausschauen und die Signale des Marktes erkennen. Der IT-Fachkräftemangel ist kritisch, da CIOs ihre Mitarbeiter schneller wieder verlieren, als sie sie einstellen können. In wichtigen Funktionsbereichen wie Data Science, Software-Engineering und Cybersicherheit ist das Angebot an qualifizierten Bewerbern nach wie vor genauso knapp oder noch knapper als zuvor. IT-Führungskräfte sollten sich darauf einstellen, dass der Wettbewerb in vielen Talentpools zunehmen und die Kosten für IT-Fachkräfte weiter steigen werden.

Die Verwirklichung digitaler Wachstumschancen wird nur möglich sein, wenn man sich bewusst ist, dass das Fehlen qualifizierter IT-Fachkräfte unvermindert anhält. Obwohl das Gesamtangebot auf dem Arbeitsmarkt höchstens um ein paar Prozentpunkte gestiegen ist, könnten CIOs die Gelegenheit nutzen, um ihre Rekrutierungsbemühungen zu verstärken. Für CIOs besteht die Chance, Maßnahmen zu ergreifen, um die besten IT-Talente zu gewinnen.

Wie können CIOs effektiv IT-Spitzentalente anwerben und binden?

CIOs sollten zum Beispiel ihre Netze weiter auswerfen, um auch den großen Pool passiver Kandidaten zu erschließen. Viele Einstellungsstrategien zielen auf aktive und nicht auf passive Bewerber ab, so dass eine Chance ungenutzt bleibt, die Qualität und Quantität der IT-Bewerber zu erhöhen. CIOs sollten in Erwägung ziehen, Mitarbeiterempfehlungsprogramme auszubauen oder Talent-Intelligence-Funktionen zu nutzen, die KI einsetzen, um passive Kandidaten über soziale Medien zu finden.

CIOs können auch entlassene Arbeitskräfte in angrenzenden technischen Kategorien ansprechen und sie schulen, um die benötigten IT-Fähigkeiten aufzubauen. So ist es zum Beispiel schwierig, Datenwissenschaftler zu finden, aber es gibt einen beträchtlichen Pool von Daten- und GBusiness-Analysten, die auf dem Arbeitsmarkt verfügbar sind und die in technischen Fähigkeiten geschult werden könnten. CIOs sollten mit den Personalverantwortlichen zusammenarbeiten, um die Anforderungen für Stellenausschreibungen anzupassen.

Das Problem, qualifizierte IT-Fachkräfte zu halten, ist aber genauso groß, wie neue Interessenten zu gewinnen?  

Da die Möglichkeiten in der IT-Branche das Angebot bei weitem übersteigen, wandern Mitarbeiter ab, wenn die Unternehmen nicht ihren Erwartungen entsprechen. Daher sollten Unternehmen sich auf andere Faktoren konzentrieren  als nur die Vergütung. Dazu gehören Flexibilität und Wachstumschancen. Nur so können IT-Unternehmens den Wettbewerb um Talente gewinnen.

 

Mbula Schoen

ist Senior Director Analyst bei Gartner. Ihr Themenfokus liegt auf der Zukunft der Arbeit, Talentmanagement, Qualifizierung von IT-Mitarbeitern und die Gewinnung von IT-Talenten.