Jäger und Sammler im Cyberspace

Der Mensch ist ein seltsames Wesen. Biologisch handelt es sich dabei lediglich um eine Variante der Trockennasenaffen (lat.: Haplorhini).

Diese aber entwickelte vor cirka 2,5 Millionen Jahren eine eigenartige Sammelleidenschaft, die sie fortan immer stärker vom übrigen Tierreich entfremdete.

Sehr schön kann man diesen Trieb noch heute an jungen Männchen, am bestem im Alter so um die zehn Jahre herum beobachten. Wenn die in kleiner Gruppe mit Taschenmessern ausgerüstet einem Waldstück zustreben. Dann liegt Zufriedenheit auf ihren Gesichtern. Sie tun, was ihre Bestimmung ist.

Im Wald hoffen die kleinen Trockennasen, interessante Steine und Stöcke, leere Schneckenhäuser, Eicheln und Kastanien und vielleicht sogar Schätze wie das abgestoßene Horn eines Rehbocks oder ein Stück Schlangenhaut zu finden. Dinge halt, mit denen man sehr viel anfangen kann. In der Altsteinzeit (griech.: Paläolithikum) entwickelten die Vorfahren der kleinen Trockennasen aus den Mitbringseln von solchen Touren die ersten Werkzeuge.

“Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss”, nennen es ausgewachsene Männchen, wenn sie ihrem Instinkt folgen. Bei ihren Jungen erkennt man noch sehr ursprünglich, was das eigentlich ist, das seit jeher geradezu triebhaft getan werden muss: sammeln.

Es ist daher auch falsch, wenn Historiker die Epoche der Jäger und Sammler als erste Stufe der menschlichen Zivilisation bezeichnen: Diese vermeintlich bloße Stufe ist vielmehr identisch mit der menschlichen Zivilisation schlechthin.

Alles andere ist lediglich eine Folge des die Spezies ausmachenden Sammeltriebs. Im Neolithikum etwa errichtete die mittlerweile zum Homo sapiens mutierte Trockennase Haus und Hof für das, was sie sammelte. Und seit Beginn des Informationszeitalters verwendet sie dafür Festplatten.

Im Herbst nun überkommt den sesshaft gewordenen Jäger und Sammler eine seltsame Unruhe. Es drängt ihn, seine Vorräte zu sichten und seine Speicher für Heu, Stroh, Getreide und Daten aufzuräumen. Damit alles in Ordnung ist, wenn’s draußen kalt wird und er nichts mehr unternehmen mag, außer sich am eingelagerten Wein und an seinem Weibchen zu wärmen.

An dieser winterlichen Vorliebe hat sich übrigens seit Jahrtausenden nichts geändert. Und es bestand auch nie ein Grund dazu.

Bis es wieder soweit ist, gilt es allerdings die Ernte einzubringen und die Beute von den Streifzügen eines Jahres ordentlich in Kellern, Speichern und Foldern zu verstauen. Und wenn dieses Werk getan ist, dann durchströmt seit Urzeiten das Gefühl rechtschaffenen Stolzes die Seele der Trockennase: Schön, welch interessante Dinge da wieder zusammengekommen sind!

Mit dem Beginn des Informationszeitalter sind es zunehmend virtuelle Dinge. Der Jäger und Sammler entdeckt sie in den entlegendsten Winkeln des World Wide Web und holt sie in seinen Massenspeicher. Programme etwa wie Audacity, ein Sound-Bearbeitungswerkzeug – Open Source – ein mächtiges Tool, durchaus vergleichbar dem Faustkeil vergangener Jahrtausende.

Als damals der Homo sapiens anfing, sich Gedanken über das Wesen der Welt zu machen, dachte er ja zunächst einmal an eine Scheibe. Inzwischen weiß er, dass es eine Scheibe ist: Knoppix, die ganze Welt des Open-Source-Betriebssystems Linux, das als ISO-Image zum Herunterladen im Netz steht. 3 GigaByte nimmt es auf der Festplatte ein.

Oder MyBible.exe, auch so ein Programm, das man irgendwann einmal aufsammelt. Es enthält nicht nur die obligatorische Luther-Bibel von 1545, sondern darüber hinaus die Eberfelder von 1871, die Alemannische, die Schlachter Bibel von 1951 und mehrere Dutzend andere Versionen.

Und dann erst Everest, das freie Fremdwörterbuch. Das gibt’s auf Deutsch, Englisch, Spanisch, Rumänisch und in etlichen anderen Sprachen, downloadbar im Web. Und in allen erdenklichen Kombinationen hat’s der Surfer mitgebracht, heim, auf die lokale Hard-Disk.

Wozu soll ein rumänisch-spanisches Wörterbuch Nutze sein? mag da ein blutleerer Pragmatiker fragen. – Die adäquate Antwort könnte wohl nur eine jener, dem Waldstück zustrebenden, kleinen Trockennasen geben. Die aber haben nun wahrlich Spannenderes zu tun, als langweilige Einwände zu widerlegen.

Ja, und dann gibt’s da noch die 716 Urlaubsbilder, das Programm, das Text in eine .bmp-Datei verschlüsselt, die Freeware-Weltzeituhr, die MP3s aus der Radio-Kolumne “Heute vor … Jahren”, die Sicherheitstools, 2798 Online-Artikel, 10 GigaByte an Statements und Interviews, neue URLs, Kryptographie-Software und etliches andere mehr. Das alles will fein säuberlich archiviert und repliziert werden.

Und während der Jäger und Sammler des Informationszeitalters dies tut und die Tage immer kürzer und die durcharbeiteten Nächte immer länger werden, da denkt er so nach über den Lauf der Zeit: Ach ja, viel hat sich verändert. Im Cyberspace gibt’s keine Wölfe, die einen fressen, und keine Feinde, die einen erschlagen wollen. Die Überlebenschancen von – physisch – immer schmalbrüstiger werdenden Jägern und Sammlern erhöht dies doch erheblich.

Eigentlich kann sie jetzt ja kommen, die kalte Zeit. Nur noch genügend Rotwein muss eingelagert werden. Schön! Und seit Jahrtausenden geht das nun schon so.